Behinderung und Erotik:Eine ganz andere Lust

Behinderung und Erotik: Das Gefühl, begehrt zu werden, ist Menschen mit Behinderung oft wichtiger als Sex.

Das Gefühl, begehrt zu werden, ist Menschen mit Behinderung oft wichtiger als Sex.

(Foto: Olivier Fermariello)

Ihnen fehlt eine Hand oder ein Bein. Aber darf man eine Behinderung erotisch finden? Wir haben Menschen getroffen, die Lust an der Unvollkommenheit empfinden.

Von Andreas Glas

Man muss mit dem Bild beginnen, mit dem der Ärger angefangen hat: mit dem Bild von seinem Schwanz. Es hing in einer Koblenzer Galerie, zwei Jahre ist das her. Es zeigte Christian Bayerlein auf der Seite liegend, nackt, die Beine gespreizt. Ein Körper wie ein Wollknäuel, sagt der Künstler, der das Bild gemalt hat. Total verwurschtelt, das Rückgrat verdreht, die Hände verkrüppelt. Das Bild, sagt Christian Bayerlein, "war der Stein des Anstoßes".

Der Mann, der aussieht wie ein Wollknäuel, fläzt in seiner Koblenzer Wohnung auf dem Sofa. Christian Bayerlein, 40, hat Spinale Muskelatrophie, richtig bewegen kann er sich nur im Elektrorollstuhl. Er ist ein Mann in einem krummen Kindskörper, die Wolldecke bis zum Hals gezogen, nur Kopf und Arme schauen raus. Das Bild, das damals in der Galerie hing, hängt jetzt hinter ihm an der Wohnzimmerwand. Er mag das Bild. "Ich bin mit meinem Körper im Reinen", sagt Bayerlein.

So ähnlich hat er das schon mal gesagt. In einem Zeitungsinterview, vor ein paar Monaten. Darin hat er auch von Frauen erzählt, die seine Behinderung erotisch finden. Und dass er Sex mit solchen Frauen hatte. Danach geriet der Stein, den das Nacktbild angestoßen hatte, erst so richtig ins Rollen.

CDU-Stadträte verhindern Bayerleins Wiederwahl

Fünf Jahre lang war Christian Bayerlein Behindertenbeauftragter der Stadt Koblenz. Bis das Interview erschien. Dass Bayerlein Behinderte als Lustobjekte darstelle, hieß es danach aus der Koblenzer CDU, habe eine Grenze überschritten. Inzwischen ist Bayerlein nicht mehr Behindertenbeauftragter, die CDU-Stadträte haben seine Wiederwahl verhindert. Bayerlein fand, dass ein Behindertenbeauftragter auch mal provozieren muss, um die Gesellschaft zu verändern. Die Stadträte fanden, dass ein Behindertenbeauftragter besser den Mund hält, wenn es um Sex geht.

Es ist eine Provinzposse, aber eine, die viel erzählt über den Umgang der Gesellschaft mit behinderten Menschen. Einer Gesellschaft, die eine Rollstuhlrampe nach der anderen baut, sich aber nicht vorstellen will, dass man behindert und gleichzeitig begehrenswert sein kann.

"Wenn es in der Öffentlichkeit um Behinderung und Sexualität geht, dann geht es immer um Sexualbegleitung, alles andere fällt hinten runter", sagt Bayerlein, langes braunes Haar, randlose Brille. Die Sexualbegleitung ist zum Modethema geworden, TV-Dokus feiern Prostituierte, die Behinderten "das Recht auf Körperlichkeit" geben - und merken nicht, dass sie ein System bejubeln, das Sexualität als Pflegedienstleistung definiert. Ein System, in dem Sex mit Behinderten nichts Freiwilliges ist, sondern Arbeit, die mit einer Art Schmerzensgeld entgolten wird.

Im Internet fand er eine Frau, die ihn begehrte

Auch Christian Bayerlein war früher bei einer Sexualbegleiterin, für 120 Euro die Stunde, plus Anfahrtskosten. "Sehr technisch" sei das gewesen, erinnert er sich. Die Sexualbegleitung konnte seine Lust befriedigen, aber nicht seine Sehnsucht, begehrt zu werden. Im Internet hat er irgendwann eine Frau kennengelernt, die ihn begehrenswert fand - nicht trotz, sondern wegen seines krummen Körpers. "Das hat viel mit mir gemacht", sagt Bayerlein, "und zwar im positiven Sinn. Ich habe gemerkt, dass da ein Potenzial ist, das auch für mich spricht, für meine Körperlichkeit."

Eineinhalb Autostunden entfernt von Koblenz sitzt Ilse Martin auf einem Drehstuhl und bietet etwas zu trinken an. Sie klemmt eine Wasserflasche unter den Stumpf ihres linken Armes, schraubt mit der rechten Hand den Verschluss ab und gießt zwei Gläser ein. Hier, in ihrem Arbeitszimmer, forscht sie seit zehn Jahren über Menschen, die sich sexuell angezogen fühlen von Rollstuhlfahrern, von Arm- und Beinamputierten. Es sind Menschen, die sich oft ein Leben lang nicht trauen, ihre Neigung zu leben. Für die meisten, sagt Ilse Martin, seien solche Menschen pervers. "Darf ich nicht begehrenswert sein, weil ich behindert bin?"

Sie hat einen Arm, der unterm Ellbogen aufhört. Dysmelie, von Geburt an. Ihre Behinderung hat sie lange versteckt. Mal unter einem Poncho, mal hängte sie eine Jacke über ihren Stumpf, selbst bei 30 Grad im Schatten. Sie wollte sich schützen. Vor den neugierigen, den angewiderten, den mitleidigen Blicken. Und vor den lüsternen Blicken, die sie als junge Frau nicht fassen konnte. Den Blicken, wenn sie am Strand lag, ohne Poncho, ohne Jacke über dem Stumpf, nur im Bikini. "Ich dachte immer: Was wollen diese Männer? Sehen die nicht, dass ich nur einen Arm habe?"

Er streichelte in der Oper ihren Stumpf

Die Männer haben es genau gesehen, aber das hat Ilse Martin erst vor elf Jahren begriffen. "Damals hat eine mir bekannte Amputierte gesagt: Weißt du, dass es Männer gibt, die uns attraktiv finden?" Ilse Martin begann zu recherchieren - und stieß auf ein Internetforum für Behinderte und ihre Verehrer. "Das hat mich umgehauen, ich war eine Woche wie in Trance." Sie meldete sich an, chattete Tage und Nächte. Sie lernte einen Mann kennen, traf ihn in der Oper. Während der Aufführung griff der Mann nach ihrem Stumpf. Und streichelte ihn. "Das war einfach schön. Ich habe nicht mehr versucht, meinen Arm zu verstecken. Er war einfach da. Er gehörte zu mir." Und als sie später im Bett landeten, hat sie sich hingelegt und den Stumpf zum ersten Mal nicht hinter ihren Rücken gebogen.

Die Affäre war bald vorbei, ihre Neugier blieb. Sie hat weiter recherchiert, hat Fragebögen ins Internetforum gestellt, hat Antworten ausgewertet, hat verglichen. "Ich wollte rausfinden, was diese Menschen so toll finden an Behinderten." Inzwischen hat sie ein Buch über diese Menschen geschrieben - und über deren Vorliebe, die sie Mancophilie nennt: Liebe zum Mangel. Die Sexualforschung sieht darin eine gesunde Neigung, die Gesellschaft tut sich damit schwerer. In der Inklusionsdebatte spielt Sexualität praktisch keine Rolle.

Es ist, als gebe es ein kollektives Übereinkommen: Behinderte sollen neutrale, asexuelle Wesen sein. Wer das anders sieht, ist pervers. Das Ideal unserer Zeit ist eben der gesunde, vollkommene Körper. Platz ist da höchstens für den kleinen Makel, der als sexy gilt, solange der Rest des Körpers der Norm entspricht: die Zahnlücke von Vanessa Paradis, der kleine Höcker auf Toni Garrns Nase. Kürzlich ist ein beinamputiertes Model über den Laufsteg der New York Fashion Week gelaufen. Aber das war ein Einzelfall, kein Trend.

Sehnsucht nach dem Unvollkommenen

In Deutschland, hat Ilse Martin hochgerechnet, dürfte es 100 000 Menschen geben, die einen Körper nur dann attraktiv finden, wenn er unvollkommen ist, wenn ihm etwas fehlt, ein Bein zum Beispiel oder ein Arm. Warum das so ist, weiß Ilse Martin auch nach zehn Jahren Forschung nicht sicher. Aber es weiß auch keiner so genau, warum dem einen große Brüste gefallen und ein anderer auf einen kleinen Busen steht, warum die eine dicke Muskeln mag und die andere damit nichts anfangen kann. Es könnte an den Genen liegen, an der Kultur, an Kindheitserfahrungen oder an allem zusammen, die Wissenschaft ist sich da uneinig. Ilse Martin glaubt, "dass in jedem Menschen etwas schlummert, eine Disposition, die durch ein Schlüsselerlebnis in der Kindheit geweckt wird".

Schlüsselerlebnis? Michael Kaiser*, 46, quetscht die Stirn in Falten, er überlegt. Eine Sache fällt ihm ein, an seiner Schule gab es ein Mädchen mit Beinprothese, das habe ihm sehr gefallen. Aber begriffen hat er seine Neigung erst in der Pubertät, als er anfing zu onanieren. Er erinnert sich an die Bilder in seinem Kopf, aber noch besser erinnert er sich an sein schlechtes Gewissen. "Ich dachte, ich bin unnormal. Ich dachte, dass Behinderte arme Menschen sind und ich diese Fantasien nicht haben darf", sagt Michael Kaiser, weißes T-Shirt, blondes Wuschelhaar. Er redet so ernsthaft und analytisch, dass man gleich merkt, wie viel er über seine Neigung nachgedacht hat. Er sitzt am Esstisch, hinter einer Nebelwand aus Zigarettenqualm. Er raucht viel, wenn er erzählt.

Und neben ihm raucht Simone*, 40. In der rechten Hand hält sie die Zigarette, der linke Ärmel hängt schlaff herunter. Simone ist für ihn längst mehr als ein Lustobjekt. Sie ist die Liebe seines Lebens. Michael Kaiser erzählt von seinen Gefühlen, die er als junger Mann nicht verstanden hat und von seiner Lust, die nicht dem entsprach, was als normal gilt. Wenn er mit einer Frau schlief, war sein Kopf woanders, immer wieder tauchten diese Bilder auf. Und wenn die Frau danach in seinem Arm lag, meldete sich sein Gewissen. Erst als das Internet ins Spiel kam, las er von Menschen, die auf amputierte Körper stehen. Er wusste jetzt, dass er einer von ihnen ist. Und nicht allein. "Das war eine große Erleichterung", sagt Kaiser.

Seine Frau ahnte, dass er mit einer anderen chattete

Er offenbarte sich seiner Freundin, aber die wollte es nicht hören. "Für mich war es eine große Überwindung, aber ich hatte das Gefühl, dass ich ihr das schuldig bin." Sie sprachen danach nie wieder darüber, stattdessen heirateten sie. Als er im Internet Simone kennenlernte, war seine Frau schwanger. Mit Zwillingen. Seine Frau schwieg, als er sich im Arbeitszimmer hinter dem Computer verkroch. Sie schwieg, obwohl sie ahnte, dass er mit einer anderen chattete. Sie schwieg, als er vortäuschte, übers Wochenende zu einer Schulung zu fahren. Und als er in den Zug stieg, hatte er Angst. Weil er wusste, er würde ein anderer sein, wenn er zurückkommt.

Fünf Stunden später stand er am Bahnsteig und küsste Simone. Alles ging sehr schnell, sie fuhren in ein Hotel, sie schliefen miteinander. "Ich war überwältigt", erinnert sich Michael Kaiser, "ich hatte die Neigung zwanzig Jahre mit mir rumgeschleppt, und dann ist es plötzlich passiert". Zwei Nächte später fuhr er zurück in sein Haus, das gerade erst fertig geworden war, und wo er doch nicht hingehörte. Fuhr zurück zu einer Frau, die er nicht liebte. Ein halbes Jahr später zog er aus. Als er seinen Eltern von seiner Neigung erzählte, stellten sie sich auf die Seite seiner Frau, nannten Simone eine "amputierte Schlampe". Seine Eltern, sagt Michael Kaiser, "haben das Scheitern der Ehe auf eine Psycho-Macke von mir geschoben. Dabei habe ich lange überlegt, ob es für meine Kinder besser ist, wenn ich bleibe oder wenn ich gehe. Ich hoffe, dass ich das Beste getan habe, indem ich offen und ehrlich war."

Frieden geschlossen mit dem Schicksal

Auch Simone war verheiratet, auch sie hat ihre Ehe aufgegeben. Für einen Mann, der sie begehrt, weil eine Leitplanke ihren Arm abgesägt hat, als sie vor 20 Jahren einen Motorradunfall hatte. "Wenn ich nicht amputiert wäre, hätte er mich nicht mal angeguckt. Er wollte mich nur mit Stumpf. Mir das einzugestehen, war schmerzhaft", sagt Simone. Sie hat sich trotzdem auf Michael eingelassen, hat ihn vor zehn Jahren geheiratet. "Ich habe jetzt einen Mann, für den ich etwas Besonderes bin", sagt sie. Dass sich Michael an ihrem Leid ergötzt, glaubt Simone nicht. "Es ist nicht das Leid, es ist der Stumpf", sagt auch Michael. Und wäre es doch das Leid, es würde sie nicht stören, sagt Simone: "Das wäre ja nur schlimm, wenn ich wegen meiner Behinderung leiden würde, aber das tue ich nicht." Mit ihrem Schicksal habe sie Frieden geschlossen. Außerdem gehe es in einer Ehe nicht nur um Sex, alles andere müsse ja auch passen. "Wie wir miteinander umgehen", sagt Simone, "ist fantastisch".

Michael Kaiser lebt jetzt das Leben, das dreißig Jahre lang eine Fantasie war. Als Perverser fühlt er sich immer noch, aber das schlechte Gewissen ist weg. "Weil Perversion für mich nicht mehr negativ besetzt ist. Für mich ist jeder irgendwie pervers, jeder hat so seine Neigungen", sagt er. Seine Frau Simone sieht das heute genauso, ein bisschen skeptisch war sie aber schon, als sie sich damals in dem Forum angemeldet hat, wo Männer wie Michael nach behinderten Frauen suchten. In einer Woche habe sie Post von 500 Männern bekommen, die sie treffen wollten. "Manche haben geschrieben: Als Behinderte kriegst du eh keinen ab, also bist du auf mich angewiesen", erinnert sich Simone. Sich mit Michael zu treffen, "hätte auch in die Hose gehen können, aber meine Neugier war einfach zu groß", sagt sie heute.

Männer, "die Behinderte nur flachlegen wollen"

So locker kann das nicht jeder Behinderte sehen. "Niemand will auf seine Behinderung reduziert werden, weder positiv noch negativ", sagt Ilse Martin. Auch sie hat Menschen kennengelernt, meistens Männer, "die skrupellos sind und eine Behinderte nur flachlegen wollen". Pervers sei die Neigung trotzdem nicht, sagt Ilse Martin, denn es gebe ja überall Menschen, denen es nur um Sex gehe, die ihre Sexualpartner nur nach dem Aussehen wählen. Aber damals am Strand, als junge Frau, sei es ihr schon unangenehm gewesen, wenn ein Mann fasziniert auf ihren Stumpf geblickt habe: "Wie hätte ich auch akzeptieren können, dass jemand etwas schön an mir findet, was ich selbst nicht schön finde?"

Ilse Martin ist auf einem Bauernhof aufgewachsen, ihre Mutter hat sie nie akzeptiert, ihr Opa nannte sie "Krüppel". Wenn die Familie aufs Feld ging, musste sie allein auf dem Hof bleiben. "In der Landwirtschaft braucht man beide Hände, da war ich ein Klotz am Bein." Inzwischen ist sie 62, hat ihren Stumpf mögen gelernt und auch die Männer, die ihren Stumpf attraktiv finden. "Natürlich müssen sich zwei Menschen auch intellektuell verstehen", sagt Ilse Martin. Aber im Grunde sei es ganz einfach: "Der eine hat, was der andere begehrt. Das ergänzt sich doch prima."

* Namen von der Redaktion geändert.

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