Autoerotische Abenteuer:Zum Sterben schön

SEXSYMBOLBILD (Mann mit Tüte) Volo SZW

Die Lust an der Luftnot nennen Wissenschaftler Hypoxyphilie.

(Foto: Veronica Laber)

Sie suchen den perfekten Orgasmus und finden den Tod: In Deutschland ersticken jedes Jahr 100 Menschen bei autoerotischen Abenteuern. Die Geschichte einer verhängnisvollen Neigung.

Von Andreas Glas

Das Foto schnürt einem selbst die Kehle zu: der leblose Bjoern, die Blümchenmatratze, die kahlen Wände seines Zimmers. Obenrum trägt er Pullover, untenrum nichts. Er liegt auf dem Bauch, das Gesicht im Teppichboden begraben, die Arme klemmen unterm Oberkörper. Neben ihm liegt eine Schere, er hatte vorgesorgt. Er wusste, dass die Sache schiefgehen konnte. Er wollte dann zur Schere greifen. Wollte den Lederriemen abschneiden, den er sich um den Hals gelegt, dessen Ende er an seinem Bett befestigt hatte.

Acht Stunden später fotografiert ein Kripobeamter den leblosen Bjoern. Die Schere liegt da immer noch neben ihm.

Das Polizeifoto hat Roswitha Pflaum aufgehoben, sie hat es in einem Ordner auf ihrem Computer abgelegt. Sie will Ordnung in ihr Leben bringen, seit sechs Jahren will sie das. Sie sitzt in ihrem Wohnzimmer in Essen-Huttrop, ganz vorne auf der Sofakante, ganz aufrecht, die Beine aneinander gepresst. Eine bodenständige Frau mit Brille, Kurzhaarschnitt, weißer Rüschenbluse zu schwarzer Weste. Roswitha Pflaum hat schlecht geschlafen. Wie jede Nacht in den vergangenen sechs Jahren. Man muss das Bild ja erst mal aus dem Kopf kriegen: Der eigene Sohn liegt tot neben zwei Porno-DVDs. Ohne Hose, ohne Würde.

Zuerst glaubte Roswitha Pflaum an Suizid

Zuerst glaubte Roswitha Pflaum an Suizid, "dann kam die Kripo und sagte: Es war ein autoerotischer Unfall. Ich habe gefragt: Was ist das? Ich musste 48 Jahre alt werden, um zu erfahren, dass es so etwas gibt." Heute ist Roswitha Pflaum 55, aber verstanden hat sie immer noch nicht, warum das damals passiert ist. Fest steht: Bjoern hat die Lust gesucht und den Tod gefunden. Nicht umgekehrt. So war das auch bei Michael Hutchence, dem Sänger der Rockband INXS, der sich 1997 mit einem Gürtel an der Zimmertür seines Hotelzimmers erhängt hat. Und bei Schauspieler David Carradine, den sein Zimmermädchen vor fünf Jahren nackt und mit einer Kordel um den Hals im Kleiderschrank fand. Prominente Einzelschicksale, aber keine Einzelfälle. In Deutschland sterben jedes Jahr geschätzt 100 Menschen bei solchen autoerotischen Abenteuern, genaue Zahlen gibt es nicht. Es sind fast immer Männer. Die Medizin nennt das Phänomen Hypoxyphilie, die Lust am Sauerstoffmangel. Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen, oft kleiden Angehörige die Toten an, bevor die Kripo kommt. Aus Scham lassen sie Riemen, Kordeln oder Sexspielzeug verschwinden, um es wie Suizid aussehen zu lassen. Lieber eine Selbsttötung in der Familie als jemanden, der sich selbst befriedigt.

Roswitha Pflaum hat sich nie geschämt. "Bjoern war ein Bilderbuchsohn", sagt sie und lächelt wie nur Mütter lächeln. Bjoern war 20, hatte das Abi in der Tasche, wollte Germanistik studieren und Griechisch. Ein lieber Kerl sei er gewesen, hochintelligent, Probleme habe er nie gemacht. "Okay", sagt sie, "er ist auch mal ausgeflippt, dann haben die Türen geknallt. Aber fünf Minuten später kam eine SMS aus seinem Zimmer: Mutti, ist jetzt alles wieder gut? Und dann war es auch gut."

Autoerotischer Unfall

Im Schlafzimmer hängt ein Airbrush-Gemälde, das Bjoerns Gesicht zeigt. Es ist das einzige Erinnerungsstück in Roswitha Pflaums Wohnung.

(Foto: Veronica Laber)

Nun ist nichts mehr gut. Vor zwei Jahren ist sie umgezogen, raus aus der Wohnung, in der sie alles an Bjoern erinnert hat. Im neuen Wohnzimmer erinnert nichts mehr an Bjoern. Überall Zimmerpflanzen, nirgendwo Fotos, es muss ja irgendwie weitergehen. Aber die Fragen, die hat sie mitgenommen in den dritten Stock der Essener Mietskaserne. Warum ist Bjoern ein so großes Risiko eingegangen? Und überhaupt: Warum schnüren sich Menschen freiwillig die Luft ab? In den Wochen nach Bjoerns Tod hat Roswitha Pflaum pausenlos Antworten gesucht, hat Tage und Nächte im Internet verbracht. In Foren, in denen sich Menschen über ihre Erfahrungen mit Gürteln austauschen, mit Masken, Plastiktüten und was es sonst noch gibt, um sich selbst den Atem zu rauben. Sie wollte verstehen, hat diese Menschen angeschrieben, hat ihnen Fragen gestellt - doch reagiert hat niemand.

Die Hypoxyphilie kann selbst die Wissenschaft nicht genau erklären, sie diskutiert aber folgende These: Sauerstoffmangel löst im Gehirn eine narkotische, gleichzeitig euphorisierende Wirkung aus. Wer sich zur selben Zeit einen Orgasmus verschafft, erlebt womöglich einen Dopaminschub, der den Orgasmus intensiver macht. Diese Kombination soll einen Rausch erzeugen, der einem Drogentrip ähnelt. Roswitha Pflaum kennt diese These, nach Bjoerns Tod hat sie viel über Hypoxyphilie gelesen, hat mit Ärzten und Psychologen gesprochen: "Wenn das Adrenalin in die Höhe geht, muss das ein unglaubliches Glücksgefühl sein. Und hat man dieses Gefühl einmal gehabt, will man es immer wieder."

Die unvernünftigen Gefühle sind oft die schönsten

Vielleicht ist das schon die Antwort auf alle Fragen, vielleicht ist es mit der Lust an der Luftnot wie mit der Lust am Trinken, am Verlieben: Die unvernünftigen Gefühle sind oft die schönsten. Sie machen süchtig. Und leichtsinnig.

"Man fühlt sich euphorisch, man fühlt sich hemmungslos, tabulos, on top of the world. Man bildet sich ein, es sei eine sichere Methode, die eigene Lust zu steigern. Ja, von wegen", schreibt ein junger Mann in einem Internetforum. Jahrelang hat er sich mit einem Gürtel die Luft abgeschnürt, hat dabei onaniert, jahrelang ist alles gut gegangen. "Aber das eine Mal, wo es nicht gut geht, reicht ja auch schon aus, um tot zu sein." Dieses eine Mal, das war der Moment, als ihm schwarz und neblig vor Augen wurde, als er geometrische Figuren blitzen sah. So beschreibt er es. "Da hing ich einfach nur da, total passiv, völlig erschöpft und mit wackeligen Puddingbeinen, wie man sie nach einem Orgasmus ja schon mal haben kann, erst recht nach so einem Orgasmus wie dem, den ich gerade erlebt hatte."

Ein Mann im Ganzkörper-Latexanzug, ein Mann in der Badewanne

Er hätte sich nur aufrichten müssen, um die Schlinge zu lockern. Aber er konnte sich nicht bewegen, mit der Luft hatte er sich auch die Kraft geraubt. Warum es am Ende gut ging, weiß er heute nicht mehr, zu benebelt sei er gewesen: "Es kann ein Geräusch gewesen sein, es kann eine Art plötzlicher Erkenntnis gewesen sein, oder urplötzliche Todesangst. Jedenfalls, es gelang mir, wenn auch sehr unsicher, richtig auf die Füße zu kommen und mich aufzurichten. Ich hab mich dann erst mal auf den Boden fallen lassen und lange dort gelegen. Voller Panik, was alles hätte passieren können, und voller Glück, dass ich gerade noch davongekommen war."

Wer nicht davonkommt, landet bei Wolfgang Keil, auf einem abwaschbaren Stahltisch in einem Raum ohne Fenster. Nach Schichtende sieht ein Obduktionssaal aus wie eine nagelneue Großküche. Überall Fliesen, glanzpolierte Kühlschränke, Arbeitsflächen aus blankem Stahl. Wolfgang Keil leitet die Münchner Rechtsmedizin, Hypoxyphilie-Tote hat er schon viele gesehen. Er kennt sich aus, vielleicht kann er Antworten geben. Aber nicht hier unten, nicht im Obduktionssaal. Wolfgang Keil bittet in die Bibliothek. Graue Tische, graue Regale, grauer Linoleumboden. "Hier ist es gemütlicher", sagt Wolfgang Keil. Wer Leichenkeller gewohnt ist, findet es überall gemütlich.

Wolfgang Keil hat Fotos von Toten mitgebracht. Ein Mann im Ganzkörper-Latexanzug, der nur zwischen den Beinen ein Loch hat. Ein Mann in der Badewanne, sein Kopf steckt in einer Plastiktüte. "Ich will nicht sagen, dass es traurig ist, weil Sexualität ja so schön sein kann", sagt Wolfgang Keil, "aber irgendwie ist das schon eine armselige Spielart." Er erzählt von Männern, die nur drauf warten, dass Frau und Kinder mal übers Wochenende wegfahren. Von Männern, die selbst im Winter einen Vorwand finden, irgendetwas im Gartenhäuschen zu erledigen. Und von Ehefrauen, die jahrelang nicht mitbekommen, was ihre Männer dort wirklich treiben. "Ich denke, dass bei vielen Männern Schuldgefühle vorherrschen, weil sie die Ablehnung der Frauen fürchten. Deshalb verstecken sie ihre Neigung", sagt Wolfgang Keil. Das meint er wohl mit "armselig", wenn er über die Hypoxyphilie spricht. Dass es sehr einsam sein kann, wenn man glaubt, seine Vorliebe verstecken zu müssen, um nicht verurteilt zu werden. Das Dilemma: Wer mit seiner Vorliebe allein ist, der ist auch allein, wenn etwas schiefgeht.

Kaum psychiatrische Studien zur Hypoxyphilie

Es gibt kaum psychiatrische Studien zur Hypoxyphilie. Und die wenigen, die es gibt, sind widersprüchlich. Mal ist von einer masochistischen Störung die Rede, ausgelöst durch körperlichen, psychischen oder sexuellen Missbrauch. Mal von gesunder sexueller Neugierde, die wächst und wächst und irgendwann aus dem Ruder läuft. Und mal heißt es, die Hypoxyphilie sei vordergründig gar kein psychologisches, sondern ein körperliches Phänomen. Doch was dabei im Körper passiert, kann auch Wolfgang Keil nicht belegen: "Man weiß aus uralten Zeiten von Männern, die bei ihrer Hinrichtung durch Erhängen eine Erektion bekamen und einen Orgasmus hatten. Aber ob der Sauerstoffmangel wirklich glücklich macht? Ich weiß es nicht." Man kann Glück eben nicht messen.

Nicht weit entfernt vom Institut für Rechtsmedizin, ein paar Straßen nur, gibt es ein Fetisch-Geschäft. Ein guter Ort, um der Hypoxyphilie doch noch auf die Spur zu kommen? Drinnen ist es schummrig, auf dem Wandfernseher läuft ein Porno. Der Laden ist zugestellt mit Regalen, die Regale vollgestopft mit Sadomaso-Kram. Es sieht aus wie beim Kostümverleih und riecht wie beim Reifenhändler. Das liegt an den Neoprenanzügen, die auf Kleiderständern hängen, und an den Gummimasken, die aus den Regalen glotzen. Frage an den Verkäufer: Warum empfinden Menschen Lust, wenn sie keine Luft mehr kriegen? Gegenfrage des Verkäufers: "Warum bin ich schwul?" Er hat ja recht, woher soll er auch wissen, was nicht mal die Wissenschaft weiß. Sie weiß zwar, dass sexuelle Vorlieben durch Einflüsse vor und Erfahrungen nach der Geburt entstehen - aber die sind ja bei jedem Menschen anders. Vielleicht muss die Frage heißen: Wie verhindert man, dass hypoxyphile Menschen bei ihren Praktiken sterben? Da gebe es nur eine Möglichkeit, sagt der Verkäufer: "Niemals allein sein, wenn man so was macht. Aber dafür braucht man den Mut, zu seinen Vorlieben zu stehen. Und einen Partner, der Verständnis hat."

Autoerotischer Unfall

"Die Kripo sagte: Es war ein autoerotischer Unfall. Ich habe gefragt: Was ist das?" Bis heute versteht Roswitha Pflaum nicht, warum ihr Sohn tot ist.

(Foto: Veronica Laber)

Das hätte sich auch Roswitha Pflaum gewünscht: Eine Partnerin, die Bjoern versteht, ihn beschützt. Als Bjoern starb, hatte er keine Freundin. Seine letzte Liebe lag da schon vier Jahre zurück. Ein griechisches Mädchen, das er auf Kreta kennenlernte. Zehn Jahre hat Roswitha Pflaum dort mit Bjoern und ihrem älteren Sohn gelebt. "Wir hatten ein offenes Verhältnis", sagt sie, "Bjoern hat mir oft von der Sexualität mit seiner Freundin erzählt. Das waren normale Dinge, die die gemacht haben." Als die Familie nach Deutschland zurückkehrte, zerbrach die Liebe zu dem griechischen Mädchen. Zu dieser Zeit war Björn 16. "Er hätte sich hier jemanden suchen sollen, der die gleiche Neigung hat", sagt Roswitha Pflaum, "das hätte das Risiko heruntergesetzt. Ich begreife nicht, warum er das nicht gemacht hat."

In ein paar Wochen wird sie nach Kreta fliegen. Wird dort das griechische Mädchen treffen, Bjoerns letzte Liebe. "Ich will wissen, ob seine Neigung damals schon Thema war zwischen den beiden", sagt Roswitha Pflaum. Sie hat lange überlegt, ob sie diese Reise machen soll: "Weil mich auf Kreta alles an meinen Sohn erinnert. Aber dieses Jahr fahre ich hin. Es muss ja irgendwie weitergehen."

Alle Rausch-Geschichten lesen Sie in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung oder in der digitalen Ausgabe.

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