Radiosendung für DDR-Bürger:Liebe BBC, lieber Walter Ulbricht

Radiosendung für DDR-Bürger: Briefe frustrierter DDR-Bürger an die BBC - Beispiele aus dem Buch von Susanne Schädlich.

Briefe frustrierter DDR-Bürger an die BBC - Beispiele aus dem Buch von Susanne Schädlich.

(Foto: Knaus Verlag)

Immer wieder freitags: In der Radiosendung "Briefe ohne Unterschrift" konnten DDR-Bürger offen Kritik üben. Auch die Stasi hörte mit.

Von Christian Mayer

Es ist der 31. August 1970, der letzte Tag der Sommerferien, als gleich sieben Mitarbeiter der Stasi kommen, um Karl-Heinz Borchardt zu verhaften. Der Schüler der Erweiterten Oberschule Friedrich Ludwig Jahn aus Greifswald wohnt bei seinen Eltern, um kurz vor acht liegt er noch im Bett, am nächsten Tag soll für ihn die 12. Klasse beginnen. Die Männer warten, bis der 18-Jährige angezogen ist, dann nimmt die Sache ihren Lauf. Abtransport nach Rostock ins Gefängnis, Leibesvisitation, Einweisung in die Einzelzelle, Verhöre, Drohungen, Einschüchterungen, Belehrungen, und das ist erst Tag eins im Gewahrsam des Staatssicherheitsdienstes der DDR. "Bei den Nazis hätten wir dich schon längst durch den Schornstein gejagt", bekommt er in Untersuchungshaft von einem Aufpasser zu hören.

Was hat der junge Mann getan, dass er wie ein Schwerverbrecher behandelt wird? Karl-Heinz Borchardt hat drei Briefe an den britischen Sender BBC geschrieben, die ihr Ziel nie erreichten, weil die Stasi ein engmaschiges Abfangnetz im ganzen Land geknüpft hat. Sein "Verbrechen" liegt der Staatsmacht schwarz auf weiß vor, in der etwas unsauberen Handschrift, die der Vater des angehenden Abiturienten gerne moniert; der Schriftvergleich mit einem Schulaufsatz, den die Stasi in Auftrag gegeben hat, liefert den Beweis.

Es ist ein fast vergessenes Kapitel deutscher Geschichte, das die in Jena geborene Autorin Susanne Schädlich erzählt, "Briefe ohne Unterschrift" heißt ihr Buch, so wie damals die Radiosendung. Von 1949 an läuft sie im deutschsprachigen Programm der BBC; für viele ostdeutsche Hörer ist sie ein Ritual. Jeden Freitagabend um 20.15 Uhr liest ein Sprecher in London vor, was Menschen aller Schichten und Altersgruppen zwischen Schwerin und Sonneberg bewegt.

Hunderte Zuschriften aus dem Written Archive der BBC in Reading hat die Autorin gesichtet. Manche sind eher banal, andere ergreifend, alle aber spiegeln die Alltagsgeschichte der DDR-Bürger ebenso wider wie große Politik - die Empörung über den Mauerbau oder die Stimmung nach dem Ende des Prager Frühling. Besonders überraschend ist, wie viele junge Menschen das Bedürfnis hatten, sich anderen offen mitzuteilen.

"Das ist ja nicht sehr viel anders als heute", sagt Susanne Schädlich, "aber diese Art des Protests läuft nun halt über die sozialen Medien." Auf die "Briefe ohne Unterschrift" stieß Schädlich bei der Recherche für ein Buch über ihren Onkel Karlheinz Schädlich, der als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi sogar seinen jüngeren Bruder ausspionierte. In ihrem Buch "Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich" geht es darum, wie das Überwachungssystem der DDR eine Familie zerstört, und wie die Wahrheit dann irgendwann doch ans Licht kommt - man kann seiner eigenen Geschichte eben nicht entgehen.

Auch das neue Buch handelt von einem Staat, der seinen Bürgern zutiefst misstraut. Die anonymen Briefeschreiber damals gehen ein hohes Risiko ein, wenn sie über die Missstände in der DDR berichten - über die Mangelwirtschaft, die Bespitzelungen, die ideologische Beeinflussung. Manche machen sich auch nur lustig über den allmächtigen "Spitzbart" an der Spitze des Staates, so wie dieser Briefeschreiber im November 1963:

"Nichts uff'n Tisch

nichts uff'n Teller

nichts uff'n Boden

nichts im Kella

uff de Toilette keen Klosettpapier

lieber Walter Ulbricht wir danken dir ..."

Katz-und-Maus-Spiel mit wechselnden Adressen

Auch Karl-Heinz Borchardt schaltet freitags die Sendung ein - bei der Stasi gilt die BBC, wie schon unter den Nationalsozialisten, wieder als "Feindsender". Als Borchardt die 11. Klasse besucht, schickt er selbst einen Brief an die Briten: "Ich bin noch Schüler und habe daher vielleicht nicht so den Durchblick, aber mich würde es doch interessieren, wie es kommt, dass dieser Staat sich so lange halten kann. Wenn man so mit den Leuten spricht, findet man doch kaum einen, der wirklich von diesem Staat begeistert ist. Ich kann mir diese Tatsache nur erklären, dass dies auf die Angst der einzelnen Bürger zurückzuführen ist..."

Der Brief datiert vom 13. Oktober 1969. Am 5. März 1970 schreibt der Schüler erneut an Mister Harrison, den Leiter der BBC-Sendung, der für viele Hörer eine Vertrauensperson geworden ist: "Ich bin 17 Jahre alt, also in diesem Staat aufgewachsen und habe die ideologische Drillanstalt bis jetzt gut gemeistert. Aber glauben Sie nicht, dass das ein Vergnügen ist, ständig was anderes zu sagen, als man denkt. Ich habe nicht die Absicht, das im weiteren Leben so weiter zu machen." Wenn man die Verhältnisse in seinem Land ändern wolle, schreibt er, so gehe das nur mit Gewalt, als Aufstand im Inneren.

Dass überhaupt noch Briefe dieser Art den Weg nach London finden, will die Stasi mit allen Mitteln verhindern. Doch die Absender wissen, wie das Katz-und-Maus-Spiel funktioniert: Man wählt ständig wechselnde Deckadressen, meist im britischen Sektor von Westberlin. In den Westberliner Postämtern werden die Briefe dann richtig sortiert und nach London weitergeleitet. Die Deckadressen werden oft in der Sendung bekanntgegeben - aber oft dauert es zwei, drei Tage, bis die zuständigen DDR-Postämter von der Stasi verständigt worden sind. Das ist die Lücke im System, die allerdings immer kleiner wird, seit Stasi-Mitarbeiter jede Sendung mittranskribieren und die Briefe inhaltlich auswerten, um gemeinsam mit der Postzollfahndung mögliches Beweismaterial zu sichern.

Experten untersuchen die abgefangenen Briefe auf Fingerabdrücke, sie bestimmen die Herkunft des Papiers und die Blutgruppe des Absenders aus dem Speichel. Jeder einzelne Buchstabe wird von Schriftsachverständigen notfalls analysiert, jedes Detail des Schreibens überprüft. Ganz schön viel Aufwand für eine Sendung, in der übrigens auch DDR-Bürger zu Wort kommen, die ihren Staat verteidigen: Bei der BBC will man den Deutschen zeigen, was Meinungsfreiheit wirklich heißt.

Was mit den kritischen Briefeschreibern passiert, die enttarnt werden, erlebt Karl-Heinz Borchardt im März 1971. Wegen "mehrfacher versuchter staatsfeindlicher Hetze von Publikationsorganen, die einen Kampf gegen die Deutsche Demokratische Republik führen" wird der Schüler zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, und das ist noch milde, verglichen mit den Urteilen gegen Briefeschreiber aus den Sechzigerjahren. Nach einer achtmonatigen Untersuchungshaft in Halle und Rostock, in der er auch körperlicher Gewalt ausgesetzt ist, kommt er jetzt ins Jugendhaus Dessau. In diesem Knast landen jugendliche Straftäter, bei denen "bisherige Maßnahmen der staatlichen oder gesellschaftlichen Erziehung erfolglos waren".

Alles hat seine Zeit, auch Radiosendungen. Anfang der Siebzigerjahre beginnt eine Phase der Entspannungspolitik. Großbritannien nimmt 1973 diplomatische Beziehungen zur DDR auf, da ist eine Sendung wie "Briefe ohne Unterschrift" nicht mehr opportun. Im Juli 1974 geht Austin Harrison letztmals auf Sendung. Er hinterlässt viele traurige Fans in der DDR, die noch 15 Jahre warten müssen, bis sie sich im eigenen Land frei äußern dürfen.

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