Arbeitssüchtige:Tage der Arbeit

Schuften bis zum Umfallen: In Deutschland leiden mindestens 200.000 Menschen unter dem krankhaften Zwang, im Beruf immerzu alles geben zu wollen.

Godehard Weyerer

Elke hatte es geschafft. Die promovierte Soziologin stieg zur wissenschaftlichen Assistentin auf. Arbeitseifer, Gewissenhaftigkeit und der Wunsch nach Anerkennung zeichneten sie in den Augen ihres Professors aus. ,,Als ich aber das erste Mal im Seminar vor den Studenten stand, bekam ich keinen Ton heraus.''

Eile, ddp

Gewissenhaft, pünktlich, keine Zeit für anderes - Arbeitssucht ist ein individueller Konfliktlösungsversuch für Kontaktängste und Minderwertigkeitsgefühle.

(Foto: Foto: ddp)

Aus Angst, einen Fehler zu machen, dehnte Elke die Vorbereitungszeit ins Unendliche aus. Sie war ständig im Dienst. ,,Wenn mich eine Freundin am Wochenende zu einer Fahrradtour einlud, lehnte ich ab.'' Sie habe nur ihre Arbeit im Kopf, bekam sie zu hören. Irgendwann rief kaum noch einer an. ,,Der Zustand, wo ich merkte, ich brauche dringend Hilfe, war erreicht.''

Elke schloss sich den Anonymen Arbeitssüchtigen an. In allen größeren Städten sind mittlerweile Selbsthilfegruppen entstanden - nach dem Vorbild der Anonymen Alkoholiker. Sich einzugestehen, das Leben alleine nicht meistern zu können, empfand Elke nicht als persönliche Niederlage. Im Gegenteil: ,,Ein Gefühl der Befreiung überkam mich, ein Gefühl, nicht immer unter Zeitdruck zu stehen.''

Kritik gleich Kränkung

Eine kleine Bestandsaufnahme zum Tag der Arbeit: Geschätzte 200.000 Arbeitssüchtige gibt es in Deutschland. Wissenschaftler wie der Bremer Wirtschaftsprofessor Holger Heide sprechen von einem neuen Massenphänomen. Arbeitssucht, meint auch der Psychologe Peter Berger, sei - wie alle Süchte - ein individueller Konfliktlösungsversuch. Wobei die Konflikte dem Betroffenen meist nicht bewusst seien.

Der Süchtige versucht Gefühle wie Depressionen, Kontaktängste, Selbstverunsicherungen, Entwurzelungsgefühle, Gefühle der Minderwertigkeit, nicht erwiderte Geborgenheitswünsche zu kompensieren. Peter Berger, Psychotherapeut in der Hardtwaldklinik im hessischen Bad Zwesten, berichtet von einem Mann, geboren 1944, der Vater gefallen, die Mutter von Soldaten der Roten Armee vergewaltigt; beide flohen in den Westen, der Sohn musste der Mutter den Ehemann ersetzen; ,,das Kind trug immer einen Anzug, der ihm zu groß war''; aus armen Verhältnissen arbeitete er sich in den Vorstand eines großen Unternehmens hoch.

In Familien der Arbeitssüchtigen besitzt Leistung einen hohen Stellenwert. Das Kind erfährt Wertschätzung über gute Schulzensuren, im Erwachsenenalter über den beruflichen Erfolg. Ganz ähnlich wie in der protestantischen Arbeitsethik eines Max Weber: Zeitvergeudung gilt als Sünde. Fleiß und das sparsame Leben aber werden von Gott belohnt.

Der Vorstandsvorsitzende, von dem Psychotherapeut Berger berichtet, ist letztlich am Erfolg gescheitert. 16 Stunden am Tag arbeitete er, hatte jahrelang keinen Urlaub, war kinderlos verheiratet, lebte aber immer noch zusammen mit seiner Mutter. Er wollte ständig bewundert werden, wertete gleichzeitig die Leistungen anderer ab und erlebte Kritik als Kränkung. Sein egozentrischer Arbeitsstil brachte das Unternehmen schließlich an den Rand des Ruins.

Sechs bis acht Wochen dauert in der Regel eine stationäre Behandlung in der Hardtwald-Klinik. Am Anfang steht der psychoanalytische Blick in die Vergangenheit. Therapeut Berger erzählt von einem Patienten, der sich in jungen Jahren der Kirchenjugend anschloss; von seinen Eltern fühlte er sich vernachlässigt.

"Ohne Fleiß kein Preis"

Mit dem Pfarrer aber identifizierte er sich und wurde später selbst Pfarrer. Es folgt der zweite Schritt: der verhaltenstherapeutische Blick in die Zukunft. Der arbeitssüchtige Pfarrer etwa wird von seinem Therapeuten angewiesen, sich einen Anrufbeantworter zuzulegen, damit er bestimmt, wann er wen zurückruft und nicht rund um die Tür für jeden ansprechbar ist.

Von klein auf wuchs Elke in eine Normalität hinein, die auf Arbeit ausgerichtet war. ,,Ohne Fleiß kein Preis'' hörte sie von den Erwachsenen. Oder: ,,Arbeit macht das Leben süß.'' Pünktlichkeit, Ordnung, Zuverlässigkeit - das waren die Arbeitsnormen und Werte, die die Hoffnungen und Sehnsüchte widerspiegelten. Elkes Mutter war Ärztin, organisierte den Haushalt und erzog die Kinder. Eine Powerfrau. Immer habe die Zeit mit etwas Sinnvollem gefüllt werden müssen, erzählt Elke.

Ihre Eltern trennten sich, als sie sechs Jahre alt war. Der Mutter wollte sie keinen zusätzlichen Kummer bereiten. Also tat sie, was von ihr erwartet wurde. Aber das, wonach sie sich wie jedes Kind sehnt, nämlich emotionale Wärme, blieb ihr versagt. Heute weiß Elke, dass Suchtstrukturen in frühen Jahren gelegt werden. Später, während ihres Studiums, versuchte sie täglich ihr Verhalten zu verändern; die guten Vorsätze führten nicht zum Ziel. Eine Sucht in den Griff zu bekommen, setzt voraus, die Ursachen zu erkennen und zu verstehen.

Das Arbeitsleben wird immer flexibler. Scheinbar zum Vorteil der Erwerbstätigen: Für sich und das Resultat der eigenen Arbeit ist jeder selbst verantwortlich. Arbeitszeiten können frei eingeteilt werden, man verinnerlicht Erfolg und Ziel des Unternehmens, in dem

man angestellt ist. Managementstrategen sprechen von individualisierten Arbeitsbeziehungen, Vertrauensarbeitszeiten und Dezentralisierung von Verantwortung. All das birgt ein höheres Maß an selbstbestimmter und selbstverwirklichender Arbeit, kann sich aber auch negativ auswirken.

Elke sagt über sich: ,,Der Stoff der Arbeitssucht ist das Adrenalin. Danach aber kommt die Depression.''

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