Amputation:Sehnsucht nach dem idealen Schnitt

Manche Menschen fühlen sich gefangen in ihrem gesunden Körper. Sie wollen zum Krüppel werden, weil sie ein Leben mit Behinderung als Herausforderung sehen.

S. Bigalke

Hitze ist ein Risiko, leichte Sommerkleidung könnte ihn verraten. Rainer parkt vor dem Baumarkt: Schuhe aus, Hose und Boxershorts runter. Die Verwandlung auf dem Fahrersitz ist Routine. Rainer winkelt sein linkes Bein an, setzt sich auf den Fuß und bindet ihn mit einer Sportbandage am Gesäß fest. Paketklebeband, eine Wollbandage, wieder Paketklebeband. Boxershorts hoch und die einbeinige Hose drüber. Passt wie angegossen, Rainer ist seinem Traumkörper nah. Einbeinig steigt er aus dem Wagen und geht an Krücken in den Baumarkt.

Amputation: Menschen, die das Body Integrity Identity Disorder-Symptom haben, begreifen ein Leben mit Behinderung als Herausforderung.

Menschen, die das Body Integrity Identity Disorder-Symptom haben, begreifen ein Leben mit Behinderung als Herausforderung.

(Foto: Foto: dpa)

Rainer ist Anfang 50, Diplom-Ingenieur. Er besitzt ein Reihenhaus, seine Kollegen schätzen ihn. Kein Mensch weiß: Rainers größter Wunsch ist eine Behinderung. Er möchte sein linkes Bein loswerden, ab Mitte des Oberschenkels.

Woher Rainers Wunsch rührt, weiß er nicht. Aber: Er ist nicht alleine. Auf einen Namen für das rätselhafte Leiden haben sich Wissenschaftler geeinigt: Body Integrity Identity Disorder, kurz BIID. So nannte der New Yorker Psychiater Michael First 2004 das Phänomen.

Die Forschung dazu ist noch jung - fest steht nur: BIID-Betroffene können sich mit ihrem gesunden Körper nicht identifizieren, sie fühlen sich fremd in der eigenen Haut. Sie wünschen sich eine Amputation von einem oder beiden Armen oder Beinen. Einige von ihnen fühlen sich erst querschnittgelähmt komplett. In Deutschland gibt es wohl mehr BIID-Betroffene, als man vermutet. In Internet-Foren tauschen sie sich aus. Sie nennen sich "Wannabes" - Möchtegerns. Erst hier haben sie erfahren, dass es andere wie sie gibt.

Rainer zweifelte lange an seinem Verstand. "Ich hatte schon als Kind diesen verbotenen, unerklärbaren Wunsch", sagt er. Damals hat er Mutters Besen im Spiel als Krücken benutzt. Mit zwanzig, in der ersten eigenen Wohnung, hat er sich das Bein mit einem Gürtel hochgebunden. Er hat Videos von Behindertensportveranstaltungen gesammelt, um Bewegungen der Amputierten zu studieren. Seine Sehnen sind vom jahrelangen Abbinden so ausgeleiert, dass Rainer beim Sport Bandagen tragen muss. Sein Auftritt als Einbeiniger ist heute perfekt. Rainer humpelt vom Baumarkt in die Fußgängerzone der Kleinstadt, zwanzig Kilometer von seinem Wohnort entfernt. Hier kennt ihn keiner. Und wer ihn schon gesehen hat, kennt ihn nur als Einbeinigen.

Rainer geht es nicht darum, andere zu täuschen. Er gaukelt sich vor, sein Bein wäre nicht mehr da. "Ich möchte mich vertiefen in die Situation desjenigen, der amputiert ist", sagt er. Pretenden nennen BIID-ler das. Der Einbeinige ist zu Rainers geheimer Identität geworden. "Erst mit einer Amputation werden beide Rollen von mir eins", sagt er. Sein Doppelleben zwingt ihn, allein zu leben, eine Partnerin hatte er nie. Erst als Amputierter habe er die Chance auf eine ehrliche Beziehung, sagt er. "Erst dann muss ich keine Geheimnisse mehr haben."

Behinderung als Aufgabe

Die Amputation gesunder Gliedmaßen verstößt gegen den Hippokratischen Eid. Kein deutscher Arzt hat sich bisher zu einem solchen Eingriff bereit erklärt. Eine ausweglose Situation, denn eine Behandlungsmöglichkeit für BIID fehlt. In Foren warnen sich Betroffene vor Psychologen. Sie prangern an, dass diese sie schnell für verrückt erklärten. Die Psychologen tun sich mit einer Einordnung in der Tat schwer: "Vor 100 Jahren wurden auch Homosexuelle noch als psychisch gestört dargestellt", sagt Erich Kasten, Medizinischer Psychologe in Lübeck, der sich mit Body Modifications, also Körperveränderungen, beschäftigt.

Ist BIID eine Krankheit? "Wenn man Krankheit so definiert, dass ein Mensch unter den Symptomen leidet, dann würde das auf BIID zutreffen", sagt Kasten. Wird der Druck zu groß, kommt es vor, dass Betroffene sich selbst verletzen. Sie verwenden Trockeneis, Schusswaffen oder legen sich auf Eisenbahnschienen. In den Foren werden Tipps ausgetauscht. Dabei geht es BIID-Betroffenen nicht darum, sich Schmerzen zuzufügen. Im Gegenteil: Hätten sie die Wahl, würden sie die Operation vorziehen.

Zwei Fälle in Schottland haben eine Diskussion darüber ausgelöst, wie weit Selbstbestimmung gehen darf. Der Arzt Robert Smith aus Filkirk hatte 1997 und 1999 zwei Männern ihre gesunden Beine amputiert, einer der beiden war Deutscher. Als die BBC im Jahr 2000 eine Dokumentation über die Operationen sendete, gab es den Begriff BIID noch nicht. Damals war nur der Begriff Apotemnophilie bekannt, die Lust am Abschneiden.

Durch den BBC-Bericht wurde Michael First, Psychiater an der Columbia Universität in New York, auf die Identitätsstörung aufmerksam. 2004 befragte er für seine Studie "Desire of amputation of a limb" 52 Betroffene und definierte ihren Wunsch nach Amputation erstmals als Body Integrity Identity Disorder. Die Betroffenen, so First, haben das Gefühl, im falschen Körper zu stecken.

Behinderung als Herausforderung

Aglaja Stirn, Leiterin der Psychosomatik an der Uniklinik Frankfurt, erforscht BIID. Ingenieur Rainer zählt zu den dreißig Betroffenen, die von ihr wissenschaftlich begleitet werden. Die Ärztin testet Gehirn und Gemüt der Betroffenen, schiebt sie in den Kernspin, legt ihnen Fragebögen vor. Das überraschende Ergebnis: Stirn konnte keine psychische Auffälligkeiten entdecken. Kein Befragter hat eine Psychose.

Typisch ist allenfalls, dass die Betroffenen überdurchschnittlich gut ausgebildet sind. Sie sind ehrgeizig, sportlich, überwiegend männlich und - so vermutet Stirn - unterfordert. "Es geht ihnen nicht darum, sich in diesen Behindertenstatus fallen zu lassen", sagt Stirn. Im Gegenteil. "Sie wollen eine Herausforderung. Sie wollen gerade mit Behinderung funktionieren." Sollte ihre Forschung ergeben, dass allein eine Operation den Leidensdruck der Betroffenen mildern kann, werde sie das so veröffentlichen, sagt Stirn.

Lesen Sie auf Seite zwei, worauf Neuropsychologen den Amputations-Wunsch von BIID-Betroffenen zurückführen.

Sehnsucht nach dem idealen Schnitt

Alexander steckt in der Zwickmühle. In wenigen Wochen muss sich der Jurist entscheiden, ob er sein Rückenmark zerstören will oder nicht. Für diesen Plan hat der Mittvierziger einen Verbündeten gefunden, einen anderen BIID-Mann. Der andere könne es kaum noch abwarten und habe Alexander eine Frist gesetzt. "Wenn ich nein sage, kommt so eine Chance vielleicht nie wieder", sagt der Familienvater. Ein Arzt wird laut Alexander für den Notfall anwesend sein. Wie er hilft, sei noch unklar, so der Jurist. "Er wird jedenfalls seine Pflicht nicht verletzen."

Weil das Rückenmark zerstört wird, kann es zu lebensgefährlichen Kreislaufproblemen kommen. Dennoch will Alexander nach dem Eingriff einige Tage in einem Versteck ausharren. Erst dann wolle er in ein Krankenhaus gehen und von einem Unfall erzählen - in der Hoffnung, dass die Ärzte nicht misstrauisch werden. Mit seiner Entscheidung ist der Familienvater allein. Seine Freundin wisse von seinem Wunsch und der Ausweglosigkeit. "Sie findet es schrecklich", sagt er. Ob sie danach mit ihm weiterleben könne, sei unsicher.

Peter Brugger, Leiter der Neuropsychologie an der Uniklinik Zürich, glaubt nicht, dass BIID eine psychologische Ursache hat. Der Neurobiologe vermutet eine Fehlfunktion im Gehirn. Der Körper werde im Gehirn eines BIID-Betroffenen falsch repräsentiert. Brugger hat zu Phantomschmerzen geforscht. BIID könnte das Spiegelbild sein: "Beim Phantomschmerz ist kein Fleisch da, aber die Glieder sind im Gehirn präsent." Bei BIID ist es andersherum. "Es ist Fleisch vorhanden, aber es ist nicht beseelt", sagt der Neurobiologe.

Diese Einschätzung passt zu Ergebnissen der Frankfurter Neuropsychologin Stirn. Sie hat Betroffenen bearbeitete Fotos ihres eigenen Körpers gezeigt, auf denen das weggewünschte Körperteil fehlt - und die Reaktion im Kernspin gemessen. Stirns Beobachtung: Das Gehirn kann sich eher mit dem Bild des amputierten Körpers identifizieren.

Hoffen auf eine Amputation

Dass der Amputationswunsch vor allem Männer plagt und meistens das linke Bein betrifft, ist nach Ansicht Bruggers Kopfsache. Jedes Körperteil ist im Gehirn repräsentiert. Die Regionen für Geschlechtsteile und Beine liegen nebeneinander. Deswegen spüren Amputierte beim Wasserlassen ihr nicht vorhandenes Bein. Daran könnte es auch liegen, dass einige BIIDler eine Amputation bei sich oder anderen erregend finden.

So ist es bei Frank. Bevor der 65-Jährige zum Wannabe wurde, war er Devotee, einer, der sich zu amputierten Frauen hingezogen fühlt. Er habe zwar nie ein Verhältnis mit einer Amputierten gehabt, sagt Frank. Während der Scheidung habe seine Frau ihn dennoch als pervers dargestellt - wegen seiner Freundschaft zu einer Oberschenkelamputierten in Kalifornien, der er regelmäßig Geld schickte. Seiner zweiten Frau hat Frank in acht Jahren Ehe nichts von seiner Leidenschaft erzählt. "Vielleicht wäre mein Wunsch nach einem eigenen Stumpf nicht so groß, wenn ich mit einer Amputierten verheiratet wäre", sagt er.

Der 65-Jährige zeigt auf die Stelle, an der in einigen Wochen geschnitten werden soll. Knapp über dem linken Knie, damit der Stumpf möglichst lang ist. "Es wird nicht sein wie nach einem Unfall, wo alles zerfetzt ist, sondern ein idealer Schnitt", schwärmt Frank.

Der Schweizer hat Fachwissen. Sein Diabetes kann Mikrogefäße in den Beinen zerstören, zu Geschwüren und sogar zur Amputation führen. Dem Chirurgen im Ausland hat er vorgelogen, dass er die Schmerzen nicht mehr aushält. Frank freut sich auf den nächsten Sommer, wenn er endlich seinen Stumpf zeigen kann.

Viele BIID-Betroffene hoffen, dass Amputationen für sie als ärztliche Behandlung möglich werden. Dafür müsste BIID in die internationale Klassifikation der Krankheiten aufgenommen werden. Doch auch dann bliebe es schwierig, einen Arzt zu finden, der gesunde Körperteile amputiert, vermutet Roswith Roth, Psychologin an der Universität Graz. Sie untersucht, ob Mediziner, Psychologen und Wissenschaftler, die mit ethischen Fragen befasst sind, einer Amputation von BIID-Betroffenen zustimmen würden. Eine frühere Studie von Roth hat ergeben, dass selbst nach Aufklärung nur wenige Außenstehende einer Operation zustimmen würden.

"Bis eine Operation allgemeine Akzeptanz findet, sind zwei große Hürden zu überwinden", sagt Roth. Erstens müssten sich mehr Betroffene outen, damit das Problem sichtbar wird. Zweitens müssten Ärzte so viel Verständnis aufbringen, dass sie ihren Hippokratischen Eid durch das Abschneiden gesunder Beine nicht verletzt sehen. Eines weiß Roth schon heute: "Es wird für beide Seiten sehr schwer."

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