Alleingeburten:Wenn werdende Mütter bei der Entbindung auf Arzt und Hebamme verzichten

Pregnant woman standing behind a tree belly protru

Einige werdenden Mütter, die allein entbinden wollen, gehen dafür in den Wald - und berichten von beglückenden Geburtserlebnissen.

(Foto: Stone/Getty Images)

Fünf Kinder bekam Susanne C. im Krankenhaus. Beim sechsten Kind beschloss sie, sich nicht in die Hand von Ärzten und Hebammen zu begeben. Solche Alleingeburten werden häufiger - trotz aller Risiken.

Von Christina Berndt

Wir legen zusammen, dachten die Freundinnen. Vielleicht geht es ihr ums Geld. Sie wollten Susanne C. eine Hebamme bezahlen, damit sie bei der Geburt ihres Kindes Hilfe hat, professionelle Hilfe. Aber es ging Susanne C. nicht ums Geld. Sie wollte einfach niemand Fremden in ihrer Nähe haben, wenn sie ihre kleine Tochter gebar. Und so etwas wie ein Profi war sie schließlich selbst, sagte sie sich. Sie hatte eine Unmenge gelesen, sogar englische Fachliteratur. Außerdem war es ihr sechstes Kind, das da im November 2016 im heimischen Wohnzimmer in die Hände ihrer Freundin plumpste. Ohne dass eine Hebamme in der Nähe gewesen wäre oder gar eine Ärztin.

Im Treppenhaus zu Familie C.s Wohnung in der Nähe von München riecht es nach Räucherstäbchen. Klischee erfüllt, könnte man denken. Wer sein Kind ohne medizinische Hilfe zur Welt bringt, hat wahrscheinlich eine Menge esoterischer Ideologie im Gepäck. Doch der Duft ist alles, was bei den C.s an Esoterik erinnert. Drinnen tobt das echte Leben. Es sind Osterferien, sechs Kinder und vier Katzen verbringen einen launigen Vormittag. Mitten drin, in großer Lässigkeit: Susanne C., die ihrer jüngsten Tochter die tätowierte Brust gibt. Viereinhalb Monate ist die Kleine jetzt alt, und ihr Vorname soll ebenso wenig wie der Nachname der Familie C. in der Zeitung stehen. Zu oft hat Susanne C. schon in entsetzte Gesichter gesehen wegen ihrer ungewöhnlichen letzten Geburt.

Sie stand, hockte, kniete, wie es ihr passte. Niemand fasste sie an

Diese sechste Geburt war ihre schönste, sagt die 34-Jährige. Endlich war sie die Regisseurin. Sie folgte nur dem, was ihr Körper ihr sagte, und nicht den Regeln fremder Ärzte und Hebammen. Noch kurz vor den Presswehen trank sie Kaffee. Sie stand, hockte, kniete, wie es ihr passte. Niemand fasste sie an. Und schließlich, am Ende dieser schlimmen Schmerzen, war ihre Kleine plötzlich da. "Diese Urgewalten, die da über Susi reingebrochen sind, das war irre. Wir waren völlig geflasht von dem Erlebnis", erzählt die Freundin.

Das "Alleingebären" erlebt derzeit einen kleinen Boom. Wie viele Kinder ohne die Hilfe von Arzt und Hebamme zur Welt kommen, wird nicht erfasst, aber Berichte davon finden sich vermehrt im Internet. Manche Frauen gebären, wie Susanne C., ihr Kind zu Hause, lassen es auf den Boden rutschen, es durch den Vater auffangen oder stellen eine Regentonne auf. Andere gehen zum Gebären in Garten oder Wald. Begeistert berichten die Frauen von ihren beglückenden Geburtserlebnissen. Doch Hebammen und Ärzte erleiden reihenweise kurze Phasen von Sauerstoffmangel, wenn sie auf das Thema angesprochen werden. Zu oft haben sie schon erlebt, was bei einer Geburt alles schiefgehen kann. Und wie gut es ist, wenn dann jemand da ist. "Es ist gegen die Interessen des Kindes, ohne Not auf die Möglichkeiten medizinischer Hilfe zu verzichten", sagt Uwe Hasbargen, der Leiter der Geburtshilfe am Münchner Universitätsklinikum Großhadern.

Die Geburtshilfe ist eine der schönsten Medizinsparten, aber ideologisch schwer umkämpft

Weshalb Frauen doch verzichten - auf Sicherheit, Schmerzmittel, Fachwissen und Beistand -, ist höchst individuell. Aber es gibt einen Faden, der sich nabelschnurartig durch ihre Berichte zieht: Es geht um Autonomie und die Ablehnung einer belehrenden Medizin - nicht nur im Krankenhaus, sondern auch durch oft dominante Hebammen, die der Gebärenden ihre Sicht aufzwingen wollen, wie eine Geburt am besten abzulaufen hat.

Die Geburtshilfe ist wohl eine der schönsten Sparten der Medizin, aber sie ist ideologisch schwer umkämpft. Über das Leben von Frauen, so scheint es, bilden sich andere gerne ein Urteil. Gleich, ob es um die Kluft zwischen arbeitenden Müttern und Hausfrauen geht oder eben darum, wie Frauen ihre Kinder zur Welt bringen. Entsprechend schwer ist es für viele, sich beim Gebären selbst treu zu bleiben. "Wenn ich ein Baby zur Welt bringe, möchte ich mich nicht mit einer fremden Person auseinandersetzen", sagt Susanne C. "Ich brauche meine Kraft für die Geburt."

Ideologie spielt dabei für sie keine Rolle. Manche Berichte findet C. selbst befremdlich - etwa wenn Mütter sich als Heldinnen feiern oder Theorien über göttliche Gebärkraft propagieren. Susanne C. ist das fremd. Sie will vor allem eines: selbst bestimmen. Und dabei hat sie sich nicht nur gegen ihre Frauenärztin, sondern auch gegen ihre besorgten Freundinnen und ihren Mann durchgesetzt. "Du bist verrückt, Baby!", hat der immer gesagt. Aber er fügte sich, und während sie presste, betete er.

Sarah Schmid - die Vorreiterin des Alleingebärens in Deutschland

Ganz langsam ist der Gedanke ans Alleingebären in Susanne C. gewachsen. Ihre ersten fünf Kinder hat sie alle im Krankenhaus zur Welt gebracht. Doch jedes Mal gab es ein Problem, und jedes Mal fragte sie sich hinterher: Musste das jetzt wirklich sein? "Das Schwierigste an den Geburten war, sie aufzuarbeiten", sagt die rundliche Frau. Oft wurde ihr ein Wehentropf angelegt, selbst wenn die Geburt nach ihrem Gefühl gut voranging. "Aber der Hebamme ging es nicht schnell genug", klagt C. "Sie meinte, ich habe eine Wehenschwäche." Stolz ist Susanne C. jetzt, dass das offenbar nicht stimmt. Bei ihrer Jüngsten ging es auch ohne Tropf, die blauen Augen strahlen, als sie das erzählt: "Endlich ist dieses Thema für mich abgeschlossen."

Auf ihre Alleingeburt hat sie sich intensiv vorbereitet. Sie hat gelernt, das Kind genau zu ertasten, und sie hat viel gelesen - vor allem von Sarah Schmid. Die Medizinerin hat auf ihrer Website "Geburt in Eigenregie" rund 80 Berichte von Alleingebärenden gesammelt. Sie gilt als die Vorreiterin des Alleingebärens in Deutschland. Auch Schmid betont, keine Ideologie zu verfolgen. Ihr erstes Kind brachte sie vor zehn Jahren noch in einer gewöhnlichen Hausgeburt zur Welt. Doch es gab Spannungen mit der Hebamme, und so erkundete sie mit Hilfe internationaler Fachliteratur, ob es nicht auch ohne geht: Wie groß ist das Risiko einer Alleingeburt wirklich - wenn die Schwangerschaft normal verlief? "Auf jeden Fall zu verantworten" war ihr Fazit. Allzu oft würden die Probleme erst produziert, weil Ärzte oder Hebammen ohne Not in den Geburtsverlauf eingreifen, sagt Schmid am Telefon: "Die entstandenen Probleme muss man dann durch weitere Eingriffe ausbaden." Tatsächlich kommt eine Geburt oft nicht richtig in Gang, wenn sie künstlich eingeleitet wird. Manchmal steht dann am Ende ein Kaiserschnitt.

Ärzte leiten oft bald nach dem errechneten Geburtstermin die Wehen ein

Sarah Schmid hat inzwischen fünf Kinder allein zur Welt gebracht - eins im Wald, zwei im Garten und zwei im Wohnzimmer, weil es draußen zu kalt war. Gleichwohl betont Schmid: Es ist wichtig, sich gut vorzubereiten, und man muss auf seinen Körper hören. "Manchmal geht es nicht allein, dann darf man das nicht auf Biegen und Brechen verfolgen." Schmid wünscht sich vor allem eines: dass viele Frauen schöne Geburtserlebnisse haben. "Wenn man hört, was für schreckliche Sachen Frauen erlebt haben", sagt sie. "Jahrelang müssen sie ein Trauma bewältigen oder die Beziehung zum Kind ist gestört - nur wegen einer schlimmen Geburt."

Wenn Frauen im Krankenhaus in die Mühlen einer für sie negativen Geburtsmedizin geraten, hat das häufig mit Befürchtungen zu tun. Denn neben Glück bestimmt vor allem ein Gefühl die moderne Geburtsmedizin: Angst. So leiten Ärzte oft schon bald nach dem errechneten Geburtstermin die Wehen ein - ohne dass es einen medizinischen Grund dafür gibt, der sich etwa im Fruchtwasser oder einer schlecht durchbluteten Plazenta messen lässt.

Susanne C.s Frauenärztin wollte die Geburt bereits einen Tag nach dem errechneten Termin einleiten. Da ging C. nie wieder zu ihr. Und wartete. Am Ende wurden es 17 Tage über Termin - wohl kein Arzt hätte ihr das zugestanden. Ohne Angst kam Susanne C. allerdings auch nicht davon: "Ich muss zugeben, als ich an die magische Grenze von 14 Tagen kam, geriet ich doch etwas in Panik." Trotzdem entschied sie sich, über diese Grenze zu gehen. "Das ist nur ein Datum, habe ich mir gesagt, mein Baby braucht eben noch etwas." Tatsächlich stellte der Kinderarzt, der C.s Tochter nach der Geburt untersuchte, fest, dass das Kind nicht zu lange im Mutterleib gewesen war. "Da sieht man, dass diese Termine oft ein Schmarrn sind", sagte er.

Es mag oft gut gehen, sagt der Geburtshelfer Hasbargen. Aber die Alleingebärenden posten im Internet natürlich nur die glücklichen Geburten, von den anderen hört man nichts mehr. "Die Menschen haben vergessen, wie gefährliche eine Geburt sein kann", sagt der Arzt und argumentiert mit Zahlen: Jede vierte Hausgeburt endet im Krankenhaus, weil sie nicht vorangeht. Und jede neunte Frau mit unproblematischer Schwangerschaft braucht unter der Geburt doch eine medizinische Intervention. Den Frauen geht es um eine natürliche Geburt, sagt Hasbargen, aber eine hohe Mütter- und Kindersterblichkeit sei eben auch Natur: "Man darf, bei aller Hingabe an die natürlichen Abläufe, nicht vergessen, dass man dafür mitunter einen hohen Preis zahlen muss."

Eines räumt der Oberarzt aber ein: "Wir haben als Geburtshelfer Fehler gemacht. Wir müssen uns fragen: Wo haben wir die Intimität der Frauen verletzt? Wo haben wir sie in ihrer Selbstbestimmung eingeengt?" Und er gibt auch zu, dass die Angst einen zu großen Einfluss auf die Geburtsmedizin bekommen hat. Wenn etwas schiefgeht, sehen sich Arzt und Gebärende vor Gericht wieder. Die Verrechtlichung der Medizin sei ein großes Problem.

Hasbargen sagt, er bewundere an alleingebärenden Frauen die Intensität, mit der sie die Geburt leben. Aber er sorgt sich. Um die Mütter. Um die Kinder. Und es klingt durchdringend, wenn er sagt: "Die Frauen möchten bitte zu uns kommen. Wir lassen sie allein, wenn sie das wünschen, versprochen." Und sie dürfen auch gerne auf dem Rasen vor dem Kreißsaal ein Zelt aufstellen, um ihr Kind zur Welt bringen. "Aber für den Fall, dass Hilfe nötig ist, wären wir gerne in der Nähe."

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