Äthiopien:Das Lebenswerk

Kaum eine Hilfsorganisation stand so für Herzenswärme und persönliches Engagement wie Menschen für Menschen. Seit dem Tod ihres Übervaters Karlheinz Böhm muss sich die Stiftung neu erfinden. Eine Bilanz.

Von Bernd Dörries

Mit dem Lebenswerk von Karlheinz Böhm habe ich kein Problem", sagt Peter Renner. Hinter ihm hängen mehrere Bilder: Karlheinz Böhm in jungen Jahren, Karlheinz Böhm in mittleren Jahren, Bilder von Karlheinz Böhms Grab. Würde sich Peter Renner aus dem Fenster lehnen, könnte er das Denkmal sehen, das sie für Böhm aufgestellt haben - hier auf dem Campus des ATTC-College in der ostäthiopischen Stadt Harar, auf einem schönen Gelände mit blauen Häusern, in denen kaum ein Raum ohne eine Erinnerung an jenen Mann auskommt, der 1981 die Hilfsorganisation Menschen für Menschen gegründet hat und ein paar Jahre später auch dieses College.

Drei Jahre sind nun vergangen seit Böhms Tod. Drei Jahre, in denen die Stiftung ums Überleben kämpfte, um eine Zukunft ohne ihren Gründer, obersten Spendensammler und Übervater. Es ging auch darum, ob die Organisation ohne Böhm überhaupt lebensfähig ist, ob sie ohne ihn noch einen Sinn macht.

Der lange Schatten von Karlheinz Böhm speist sich, wenn man so will, aus zwei Leben. Im ersten hatte der Schauspieler oft versucht, seinem Image als Kaiser Franz Joseph in der "Sissi"-Trilogie zu entkommen, das lange Zeit an ihm klebte. Doch seine enorme Popularität hatte dem Österreicher auch den Weg in ein zweites, ernsteres Leben geebnet: als eine Art oberster Entwicklungshelfer Deutschlands. Keine andere Entwicklungshilfe-Organisation war hierzulande so bekannt wie Menschen für Menschen, ihr Image schien mit dem ihres Gründers verschmolzen zu sein. Böhms zweites Leben sollte nach seinem Willen in der Stiftung fortbestehen.

Aber wie? Die Spenden gingen nach dem Tod des Gründers dramatisch zurück. Der neue Vorstand sah nur einen Weg, die Zukunft zu sichern: mit weniger Böhm. Nach drei Jahren stellt sich nun die Frage, ob diese Operation gelungen ist. Wie viel Böhm noch in Menschen für Menschen steckt. Und ob die Organisation womöglich austauschbar geworden ist, so wie viele andere.

Wenn es nach Peter Renner geht, dann könnte man endlich ein paar Bilder abhängen von den Wänden, ein paar Statuen verhüllen und ein paar Basteleien aus den Zimmern holen, welche die Kinder für Böhm gemacht haben. Seit drei Jahren ist Renner nun Vorstand von Menschen für Menschen (MfM) und genau so lange muss er sich nun schon mit der Frage beschäftigen, wie viel Karlheinz Böhm noch gut ist für MfM. "Eine Organisation ist wie ein Organismus, der erwachsen wird und sein eigenes Leben führt", sagt Renner. In Äthiopien fragen ihn die Leute, ob die Arbeit der Organisation überhaupt noch weitergeht, nach dem Tode Böhms. In Deutschland fragen ihn die Jungen mittlerweile, wer dieser Böhm noch mal war. Das ist in etwa der Spagat, den Renner schaffen muss, wenn es um den Geist der Organisation geht. Nicht zu wenig Böhm, aber auch nicht zu viel.

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Im Jahr 2001 schaute Karlheinz Böhm noch selbst nach dem Rechten.

(Foto: Per-Anders Pettersson/Getty Images)

"Man kennt die Leute schnell nicht mehr. Wir müssen die Organisation so weiterentwickeln, dass das, was Karlheinz Böhm entwickelt hat, sich weiterträgt. Das müssen wir über sinnstiftende Arbeit tun. Vielleicht auch über eine andere Sprache." Renners Sprache ist die eines Managers; wenn er über den Gründer und Übervater der Stiftung redet, fallen Wörter wie "Signature" und "Testimonial". Karlheinz Böhm dagegen hat immer jeden umarmt, den er in Äthiopien getroffen hat, eigentlich das ganze Land.

2010 nahm die Organisation 10,5 Millionen Euro ein, 2015 nur noch 6,1 Millionen

Wenn man mit Peter Renner unterwegs ist, auf Besuch bei den Projekten der Stiftung im Land, steigt er mit einem entschiedenen "So" aus dem Landcruiser und begrüßt die örtlichen Repräsentanten mit festem Händedruck, der nicht offenlässt, wer hier der Chef ist. Es dauert dann meist nicht lange, bis jemand die Zahlen der Projekte herunterrattert: wie viele Bäume gepflanzt wurden, wie vielen Frauen gerade eine Spirale eingesetzt wurde, wie viele Leben Menschen für Menschen eben verbessert hat. Zehn Mal im Jahr fährt Renner nach Äthiopien. Nicht unbedingt, um Kinder zu umarmen. Sondern um die Organisation zu retten, so viel wie möglich davon.

Die letzten Monate von Karlheinz Böhm waren nicht einfach für die Stiftung. Damals ging es um einen Großspender, der wohl gerne der nächste Böhm geworden wäre. Und um die Frage, wie viel Einfluss man ihm und seinem Millionenvermögen einräumen wollte. Als MfM sich gegen den Spender entschied, wandte der sich mit aller Härte gegen die Organisation. In Zeitungsanzeigen sprach der gekränkte Gönner von Misswirtschaft und Korruption. Viel blieb von den Vorwürfen nicht übrig, der stellvertretende Landesdirektor wurde entlassen und ein weiterer Mitarbeiter. Trotzdem blieb etwas hängen, die Spenden gingen zurück. Dann kam der Tod des Gründers. Bei manchen Projekten in Äthiopien wurde das Geld knapp.

So öffentlich der Tod von Böhm und die Kampagnen gegen Menschen für Menschen waren, so leise und unbemerkt kämpfte die Organisation in den Jahren darauf ums Überleben in der alten Größe. In einem durchschnittlichen Jahr wie 2010 hat MfM 10,5 Millionen Euro an Spenden eingenommen, 2015 waren es nur noch 6,1 Millionen. In Äthiopien konnten Schulen nicht weitergebaut, Brunnen nicht weitergebohrt werden.

Böhm wäre in einer solchen Situation einfach zu einem Unternehmer gegangen und hätte ihm gesagt, er brauche jetzt bitte mal eine halbe Million, mit einer Mischung aus Charme und Befehl. Die Generation dieser Unternehmer ist aber älter geworden oder gestorben. In den Konzernen sitzen heute Compliance-Abteilungen, die genau wissen wollen, wo jeder Cent geblieben ist, um wie viel Promille sich das Leben verbessert hat in Äthiopien. Deshalb sind die Zahlen so wichtig, die Renner immer vorgelesen bekommt auf den Stationen seiner Reise. "Das wäre nicht die Welt von Karlheinz Böhm gewesen", sagt Renner. Seine ist es umso mehr. Er kommt nicht aus der Entwicklungszusammenarbeit, hat bei Roland Berger gearbeitet und danach für die Bayerischen Chemieverbände. Er kommt eher aus der Welt der Zahlen, hat bei MfM neue Abteilungen gegründet, eine neue IT-Architektur eingeführt. Für Geber wird nun genau aufschlüsselt, was mit ihrem Geld passiert ist.

Äthiopien: MfM-Vorstand Peter Renner im Gespräch mit einem lokalen Mitarbeiter.

MfM-Vorstand Peter Renner im Gespräch mit einem lokalen Mitarbeiter.

(Foto: MFM)

Die Zeit der Hemdsärmeligkeit und Spontanität im Spendengeschäft ist zu Ende. Böhm hat die Großspender damals einfach noch ins Flugzeug gepackt und ist mit ihnen ins Land geflogen. Für ihn war Unabhängigkeit das höchste Gut. Er und seine Frau Almaz haben die Spenden eingetrieben, sie haben entschieden, was damit passiert. Renner und seine Co-Vorstände Sebastian Brandis und Martin Hintermayer mussten sich von einem Teil der Unabhängigkeit verabschieden. Spenden schwanken, man kann sie nicht immer beeinflussen. Also bewirbt sich MfM nun auch um Fördergelder der Bundesregierung und der Europäischen Union, was wiederum bedeutet, dass man Anträge stellen und einen Teil der Projektarbeit an lokale Organisationen vergeben muss, so lauten die Statuten der EU.

Die Vorgaben sollen garantieren, dass Mittel für die Zusammenarbeit nicht vor allem an Mitarbeiter aus Europa oder den USA fließen, in Gehälter mit Auslandszulage und Geländewagen. Das Geld soll beim Aufbau einer lokalen Infrastruktur und Zivilgesellschaft helfen. Auch Menschen für Menschen muss sich an die Regeln halten, obwohl man die Stiftung durchaus auch eine äthiopische Hilfsorganisation nennen könnte, die eben zufällig ihre Gelder aus Deutschland bekommt. Von den 750 Mitarbeitern in Äthiopien sind nur fünf nicht aus dem Land. Eine solche Quote schafft wohl keine andere Hilfsorganisation.

Berhanu Negussie ist von Anfang an dabei. Der Landesdirektor von MfM in Äthiopien betreut Projekte auf Flächen so groß wie Kroatien. Schulen werden gebaut, Brunnen gegraben, Wasserkanäle verlegt. Trifft man den Landesdirektor, zeigt er erst mal ein Bild, auf dem er und Karlheinz Böhm zu sehen sind. 1981 war das, da hatte Böhm gerade bei "Wetten, dass..?" gewonnen. Er hatte gewettet, dass nicht einmal jeder dritte Zuschauer eine Mark für Afrika spenden würde. Und recht behalten. Die 1,2 Millionen Mark, die dennoch zusammenkamen, nahm Böhm damals mit nach Äthiopien, und überlegte, wie er helfen könnte. Dort saß er dann oft am Boden in einem Kreis von Leuten und hörte nur zu. "Das ist bis heute unser Prinzip geblieben, wir fragen, was die Leute brauchen", sagt Berhanu. Nach dem Tod von Böhm war es die Organisation selbst, die etwas brauchte: Spenden, Geld. "Wir hatten Angst, dass alles zusammenbricht. Früher hieß es immer: Dr. Karl macht das", sagt Berhanu Negussie. Aber dann war Dr. Karl nicht mehr da und die Verunsicherung groß.

Äthiopien: Jugendliche und ihr eigener Maisdrescher im Süden Äthiopiens.

Jugendliche und ihr eigener Maisdrescher im Süden Äthiopiens.

(Foto: MFM)

Am Nachmittag hält Peter Renner in einem kleinen Dorf im Süden Äthiopiens. Man sieht ein halbes Dutzend Jugendliche, jeder mit einem Sack Mais auf der Schulter, mit dem sie dann in der prallen Sonne zu einer großen Dreschmaschine hasten. Früher haben die Frauen hier tagelang auf den Mais eingedroschen, bis sich die Körner lösten. Heute dauert es nur ein paar Sekunden. Traktoren haben auch schon andere in Afrika großflächig verteilt. Die Maschinen liefen eine Zeit lang, dann gingen sie kaputt und blieben es auch, weil niemand sie reparieren konnte. Der Traktor wurde so auch zu einem Symbol für gescheiterte Entwicklungspolitik.

Menschen für Menschen hat den Jugendlichen einen Kredit gegeben für die Dreschmaschine. Sie müssen sie abbezahlen, und sie bringt nur Geld, wenn sie läuft. Es gibt eine direkte Verantwortung. Die Jungs ziehen mit der Maschine über die Dörfer und kassieren für jeden Sack Mais ein wenig Geld. Bald wollen sie eine neue Dreschmaschine kaufen.

"Eigentum schafft Verantwortung", sagt Renner. Wenn Menschen für Menschen sich in einer Region engagiert, dann für höchstens 15 Jahre, dann werden die neu gebauten Schulen an die Regierung übergeben und die Brunnen und Aufforstungsgebiete an die Dörfer. Bei der Hilfe geht es von Anfang an darum, dass sie irgendwann wieder vorbei sein wird. Manchmal geht das sehr gut. Manchmal nicht.

Ein Vorzeigeprojekt liegt in den Bergen hinter Harar, viele Stunden von der Stadt entfernt. Man denkt für einen kurzen Moment, nun wirklich in der Einsamkeit gelandet zu sein. Aber in einem Land mit 100 Millionen Einwohnern ist man nie lange allein, es dauert nur ein paar Minuten, bis ein Äthiopier um die Ecke kommt. Wie überall im Land gibt es auch hier zu viel Mensch und zu wenig Wasser, weshalb MfM seit einem Jahr versucht, die Erosion zu stoppen. Arbeiter haben Gräben in die Hänge gezogen, heimische Pflanzen gesetzt. Schon nach wenigen Monaten rauscht der Regen hier nicht mehr in einem Schwall ins Tal, sondern versickert in den Hügeln, in der Ebene hebt sich der Grundwasserspiegel, die Ernten steigen. Und die Abwanderung aus den entlegenen Dörfern sinkt. Es kann offenbar auch sehr einfach sein, in Afrika Erfolge zu erzielen. Wenn der örtliche MfM-Repräsentant und Renner von diesem Projekt erzählen, dann überschlagen sie sich. Dann kann der eine es kaum ertragen, dass gerade der andere diese Erfolge verkündet. Man hat bei Peter Renner mitunter das Gefühl, dass er auch gegen die Schatten der Vergangenheit anredet.

Die Zahlen haben die Umarmung ersetzt. Das ist manchmal auch ganz gut

Der eine Schatten ist der des verstorbenen Karlheinz Böhm, der andere der seiner Witwe Almaz Böhm, die ja eigentlich alles weiterführen sollte, die aber im Moment gar nichts mit Menschen für Menschen zu tun hat - und auch nicht über die Stiftung reden will. Viele in der Organisation würden sich eine Rückkehr wünschen, Renner gehört nur bedingt dazu. Almaz Böhm hatte in einer Phase den Vorstand übernommen, als MfM unter den Korruptionsvorwürfen litt und ihr Mann schwer krank war. Sie gab das Amt auf, um ihren Mann zu pflegen. Versuchte es später noch einmal als Schirmherrin, was aber auch nicht funktionierte. Nun arbeitet sie an einem Buch über Karlheinz Böhm, danach will sie sich entscheiden, wie es weitergeht, ob überhaupt.

Äthiopien dankt Karlheinz Böhm mit ´Karl Platz"

Der Karl-Square in Addis Abeba.

(Foto: Tobias Hase/dpa)

Doch auch wenn Almaz Böhm zurückkommen sollte, die Stiftung hat sich bereits verändert. Sie ist pragmatischer, sachlicher, aber damit vielleicht auch ein bisschen beliebiger geworden, so ohne die gewohnte Wärme. Almaz Böhm würde diese Rolle vermutlich liegen, den Spendern die Herzlichkeit zu vermitteln, die derzeit nicht vorgesehen ist.

Eine andere Frage ist, ob diese Art von Herzlichkeit denn noch gefragt ist. Unter Renner verschickt Menschen für Menschen digitale Rechenschaftsberichte an die Spender. Fast jeder Baum, der gepflanzt wurde, ist irgendwo aufgeführt. Die Zahlen haben die Umarmung ersetzt.

Peter Renner sagt: "Es bleibt aber ein in hohem Maße befriedigendes Element, was auf die Spender zurückfällt. Die Rezipienten der Message sind ganz anders gepolt als noch vor zehn Jahren." Einerseits klingt das recht albern. Andererseits hat er damit womöglich recht.

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