Adoption:Geschäftswert 10 000 DM

Adoption: Tinga Horny mit fünf Jahren: Ich war doch nicht vom Himmel gefallen, oder?

Tinga Horny mit fünf Jahren: Ich war doch nicht vom Himmel gefallen, oder?

(Foto: privat)

Tinga Horny war in den 1960er Jahren eines der ersten chinesischen Adoptivkinder in Deutschland. Über die Suche nach ihren leiblichen Eltern - und eine ernüchternde Erfahrung.

Protokoll: Lars Langenau

"Mir ist nie aufgefallen, dass meine Mutter so ganz anders aussah als ich. Sehr blond, und ihre Augen waren wirklich blau. Ich bin mit vier Jahren in die Obhut meiner Adoptivfamilie gekommen und erlebte eine unbeschwerte Kindheit. Nur eines störte mich immer: Oft zogen andere Kinder mich auf und behaupteten, dass meine Mutter gar nicht meine Mutter sein würde. Vergeblich habe ich mich gewehrt: Ihr lügt, ihr lügt. Ich war doch nicht vom Himmel gefallen, oder?

Dann, eines Tages, mit zehn, elf Jahren entdeckte beim Kramen in einer Schublade meine Adoptionsurkunde und die Rechnung des Notars. Darin stand unter anderem, dass ich in München geboren wurde und was ich, wie ein Grundstück, gekostet hatte: 'Geschäftswert 10 000 DM'. Nun hatte ich es schwarz auf weiß, dass ich nicht das leibliche Kind meiner Eltern war. Ich spüre heute noch den Schock, aber vor allem die Scham beim Lesen dieser Urkunde. Ich gehörte also doch nicht in die Welt, in der ich aufwuchs. Ich gehörte in eine Welt, die mir völlig fremd war.

Ein Chinese gibt sein Kind nicht an eine 'Langnase' ab

Ich wurde 1958 geboren, meine chinesischen Eltern haben mich sofort in ein Säuglingsheim gesteckt und verschwanden. Als ich ein paar Jahre später adoptiert wurde, war das sehr ungewöhnlich. Adoptionen ausländischer Kinder waren Anfang der 1960er Jahre noch eine Seltenheit. Und eine mit einem chinesischen Kind war noch viel außergewöhnlicher. Ein Chinese gibt sein Kind eigentlich nicht an eine 'Langnase' ab. Chinesen denken automatisch, dass ein chinesisches Kind nur bei Chinesen gut aufwachsen kann.

So war ich als chinesisches Kind deutscher Eltern eine ziemliche Ausnahme in der Bundesrepublik. Andere asiatische Kinder kamen Mitte der 70er Jahre aus Vietnam. In den 80er Jahren und vor allem Anfang der 90er Jahre erlebten Auslandsadoptionen einen Boom. Vor allem von China in die USA und von Russland nach Deutschland.

Ich wollte nicht mehr ständig gefragt werden, woher ich komme

Ich jedenfalls habe damals niemandem von meinem Geheimnis erzählt. Ich fühlte mich sehr allein gelassen. Meine Eltern waren, was die Hautfarbe angeht, farbenblind. Für sie waren alle Menschen gleich, egal, ob weiß, schwarz oder grün. Ich war einfach ihre Tochter. Punkt. Doch damit wurden mein Aussehen und meine wahre Herkunft zugleich zum Tabu. Ich wollte meinen Eltern nicht wehtun. Wohl auch deshalb haben wir zu Hause nie ausführlich über meine Herkunft geredet. Und wenn, dann gab es Zoff.

Als Kind habe ich leidenschaftlich gern Cowboy und Indianer gespielt. Ich wollte immer Indianer sein wegen des Stirnbands mit der Feder. Ich habe aber absolut nicht verstanden, warum manche Kinder zu Fasching als 'Chinesen' gingen mit gelben Kitteln und seltsamen Hüten auf dem Kopf. Erst langsam begriff ich überhaupt, dass ich asiatisch aussehe. Zunächst habe ich das als Stigma empfunden. Ich wollte nie ein Außenseiter sein, ich wollte 'normal' sein und auch nicht mehr ständig gefragt werden, woher ich komme.

Ich entwickelte mich zu einem renitenten Kind, kam früh ins Internat, wo ich mich wohlfühlte. Doch auch dort musste ich mich ständig rechtfertigen, wer ich bin. So entwickelte ich mich zu einer regelrechten Kratzbürste. Ich konnte die Fragen nicht mehr hören: Woher kommst du? Warum sprichst du so gut Deutsch? Das passiert mir auch heute noch. Ich finde das langweilig und unwichtig. In der Vorstellung vieler Menschen muss ein Deutscher weiß sein. Das nervt.

Suche nach meinem Ursprung

Mit 21 Jahren bin ich zum Studium nach China gegangen. Ich blieb fünf Jahre. Es war spannend, weil sich von 1979 an China zu öffnen begann. Aber vom ersten Moment an wusste ich, dass China ganz sicher nicht meine Heimat ist. Chinesen lachten über mein schlechtes Chinesisch, waren irritiert von meinem 'westlichen' Benehmen. Haben sie von meiner Adoption erfahren, dachten sie sofort: 'Oh Gott, die Arme ist unter lauter Deutschen aufgewachsen, das muss ja schlimm gewesen sein.' Für mich war damit immer klar, dass ich nicht zu China gehöre, sondern deutsch war.

Auf die Suche nach meinen leiblichen Eltern machte ich mich erst, als mein Vater gestorben war. Ich hatte zu ihm eine sehr enge Verbindung, war eine Vater-Tochter. Mir wurde durch seinen Tod sehr bewusst, dass ich um ihn wie um einen Vater trauerte, dass er aber nicht mein leiblicher Vater war. Ich musste mich der Realität stellen: Ich war adoptiert.

Warum war ich weggegeben worden? Ich wollte die Gründe erfahren und so wurde die Suche nach meinen leiblichen Eltern existenziell für mich. Ich wollte meinen leiblichen Eltern in die Augen sehen. Es wurde eine Suche nach meinem Ursprung. Nicht zu wissen, woher ich kam, und die Tabuisierung meiner Adoption hatten mich psychisch zermürbt.

Ich war nicht mehr als 'verschüttetes Wasser'

Die Recherchen nach meinen chinesischen Eltern waren mühselig. Nach fast zwei Jahren mit vielen Irrwegen und Sackgassen stand ich schließlich meiner leiblichen Mutter gegenüber. Sie war eine fremde Frau für mich. Vollkommen fremd! Außer äußerlichen Ähnlichkeiten war da nichts. Sie hatte kein Interesse an mir. Weder damals noch heute. Sie wollte eigentlich nur, dass ich schnell wieder verschwinde, denn ich war noch immer ein Stachel in ihrem Herzen. Als sie mich Ende der 50er Jahre abgab, war es ihr nur um ihr Wohlergehen, ihre Existenz gegangen.

Adoption: Tinga Horny war Anfang der 60er-Jahre das einzige chinesische Adoptivkind in München. Heute lebt die freie Journalistin in der Nähe von Kiel.

Tinga Horny war Anfang der 60er-Jahre das einzige chinesische Adoptivkind in München. Heute lebt die freie Journalistin in der Nähe von Kiel.

(Foto: privat)

Ich war ein ganz banaler Fehltritt, das Ergebnis eines Seitensprungs meiner Mutter. Ich war nicht mehr als 'verschüttetes Wasser', eine chinesische Metapher für Mädchen, die in der konfuzianischen Gesellschaft nichts wert sind. Sie sind Brutkästen, die Söhne zu gebären haben. Das alles zu hören war verwirrend. Nicht schockierend, sondern eher ernüchternd für mich. So ist es eben gelaufen.

Was mich bewegte, war weniger die Tatsache, dass meine leibliche Mutter mich loswerden wollte, sondern dass ich plötzlich mit einer Familie konfrontiert war, deren spätfeudale Werte so ganz anders als die meiner Adoptiveltern waren. Ich kam nicht aus prekären Verhältnissen. Ich entstammte einer konservativen, patriarchalischen chinesischen Familie. Söhne waren in erster Linie dazu da, um den Clan zu erhalten und das Vermögen zu mehren. Und meine Geburt bedrohte das. Kinderglück zählte wenig.

Resultat eines banalen One-Night-Stands

Meine leibliche Mutter war nicht arm oder überfordert. Sie gab mich nach meiner Geburt weg, weil ich nicht das Kind ihres Mannes war. Wäre das je herausgekommen, dann hätten nicht nur sie und ihr Gatte, sondern der ganze Clan sein Gesicht verloren. Meine Mutter und ihr Mann gaben mich aus kühlem Pragmatismus weg, weil die Entscheidung für mich Schande und vor allem Armut bedeutet hätten. Meine Geburt war das Symbol für eine beschämend schlechte Beziehung. Sie waren 30 Jahre verheiratet, aber waren nie glücklich miteinander.

In Europa haben wir eine individualisierte Schuldgesellschaft. Wir fragen immer gleich: Wer hat die Schuld daran? In China herrscht eine kollektive Schamgesellschaft. Wenn jemand etwas außerhalb der Norm tut, dann beschämt er seine Gruppe, seinen Clan. Das ist schlimmer als der Verlust der persönlichen Ehre.

Nachdem ich meine chinesische Mutter gefunden hatte, war ich eine Zeit lang verbittert, dass ausgerechnet ich nur das Resultat eines banalen One-Night-Stands bin. Doch dieser Zustand dauerte nicht lange an. Er wurde durch einen unheimlichen Stolz ersetzt, weil ich meine Elternsuche nie aufgegeben hatte. Immer wieder hatten mir dabei Zufälle, Freunde und völlig fremde Menschen geholfen. Die Begegnung mit meiner biologischen Mutter hat mich aber auch erfahren lassen, dass Blut weniger bindet als gemeinsame Erfahrungen und ein gemeinsames Leben. Und das hatte ich mit den Eltern, die mich aufgezogen haben.

Meinen leiblichen Vater habe ich nicht gefunden. Vermutlich wanderte er nach Kanada aus. Ob er heute noch lebt, weiß ich nicht. Ihn zu finden, ist mir einfach nicht mehr wichtig genug. Heute weiß ich, wer ich bin, warum ich so aussehe, wie ich aussehe, und warum ich so deutsch denke. Meine Suche ist abgeschlossen. Es gibt noch anderes in diesem Leben als die Suche nach Identität. Ich kann jetzt mit anderen Dingen weitermachen. Schließlich bin ich doch nicht vom Himmel gefallen."

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Tinga Horny, 57, ist Journalistin und lebt in der Nähe von Kiel. Geboren wurde sie 1958 in München; ihre chinesische Mutter, die mit ihrem Mann kurze Zeit in Deutschland lebte, lies sie in einem Waisenhaus zurück. 2015 hat sie ein Buch über ihre Erfahrungen und die Recherche über ihre Herkunft veröffentlicht: "Die verschenkte Tochter. Wie ich meine leiblichen Eltern suchte und meine wahre Heimat fand", Bastei Lübbe Verlag, 8,99 Euro

Überleben

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