Adipositas:"Ich habe Barbie-Puppen gekauft, um sie zu quälen"

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Sandra Selbach - von 160 Kilo auf 80 Kilo. (Foto: links: privat; rechts: Oliver Misof)

Sandra Selbach litt unter ungezügeltem Essverhalten. Mit einem Körpergewicht von 160 Kilo nimmt sie den Kampf gegen ihre Fettsucht auf. Eine Geschichte von Einsamkeit und Frust.

Protokoll: Lars Langenau

"Ich war eine fette Frau. Aber das war eine Entwicklung, vielleicht werden sich manche wiedererkennen. Niemand isst, weil er gerne dick und fett werden will - oder eine Adipositas-Karriere anstrebt. Meine Geschichte kann natürlich auch eine Ohrfeige sein. Weil sich nicht alle zu dem Schritt entschließen werden, den ich getan habe. Aber jeder hat seinen eigenen Weg.

Klar muss man in der Kindheit suchen, um zu schauen, was da schiefgelaufen ist. Ich hatte eine traumatische Kindheit und Jugend: kein intaktes Elternhaus, keine Freunde, eine labile Mutter, eine trunksüchtige Oma. Es gab viel zu kompensieren. Sehr früh habe ich begonnen, Einsamkeit mit Essen auszugleichen. Wenn ich als kleines Kind Milchspeisen bekommen habe, habe ich das mit einem Wohlgefühl verbunden - und sie in mich hineingestopft.

Wenn meine Mutter nüchtern war und für mich gekocht hat, oder wir zusammen gegessen haben, dann war das für mich Harmonie pur. Dann war ich der glücklichste Mensch. Ich hätte in diesen Momenten am liebsten die Welt eingefroren. Küchenpsychologisch betrachtet habe ich dieses positive Gefühl dann wohl übertragen. Schließlich war meine Mutter meine Göttin, auch wenn sie so oft nicht für mich da war. Auch sie hatte schwere Alkoholprobleme. Mal war sie vier Tage, mal 14 Tage weg, ohne dass ich wusste, wo sie war. In der Grundschulzeit dachte ich oft, dass sie nie wiederkommt. Ich hatte keinen Halt zu Hause.

Ich war in ständiger Sorge um meine Mutter. Eigentlich wie eine Mutter um ihre Tochter bemüht und besorgt sein sollte. Ich habe die Mami spielen müssen. Vielleicht hatte ich deshalb auch nie einen ausgeprägten Kinderwunsch. Und ich glaubte lange, dass ich meine ganze Kraft und Energie schon in der Kindheit aufgebraucht habe. Heute weiß ich, dass das nicht stimmt, aber damals fühlte ich mich so.

Auf ein verletztes Tier stürzen sich die Geier

Der Kühlschrank wurde über die Jahre zu meinen Zufluchtsort. Gab es ein Problem oder einen negativen Gedanken, war der wenigstens noch da. Kurzfristig konnte ich damit Einsamkeit und Frust bekämpfen. Ich wollte die Leere in mir füllen und so wurde das Essen mein bester Freund und ständiger Begleiter. Es war eine Flucht in die Welt von Fett und Zucker.

Schon im Alter von acht Jahren konnte ich Barbiepuppen nicht leiden. Diese zierliche Figur, Hüfte und Taille: Total unrealistisch - und für mich unerreichbar. Also habe ich den Puppen die Haare abgeschnitten. Ich habe Barbie-Puppen gekauft, um sie zu quälen.

Als ich wuchs, verteilten sich meine Pfunde und als junges Mädchen hatte ich wohlproportionierte Rundungen. Aber eigentlich versuchte ich mich unsichtbar zu machen. Trotzdem, oder gerade deshalb, wurde ich in der Schule gemobbt und musste grausame Situationen ertragen, war das Opfer. Ich wurde getreten, mein Schulpult wurde umgestoßen, es wurden Späße auf meine Kosten gemacht. Wie das eben so ist: Auf ein verletztes Tier stürzen sich die Geier. Hässlich sein, so lernte ich damals, bedeutet wertlos zu sein. Gutes Aussehen ist Macht.

Ich brauchte ein Ventil, um den seelischen Druck abzulassen. Das wurde mein zwanghaftes Essverhalten. Ich tröstete mich mit Süßigkeiten. Dabei hätte ich damals einfach nur dringend jemanden zum Reden gebraucht, jemanden, der diese große Verantwortung für das Leben meiner Mutter und mein eigenes mitträgt.

Trauer, innere Leere, Halt - alles habe ich im Essen gesucht. Wenn Geborgenheit und Liebe nicht da waren, habe ich nach Essen gegriffen. Schleichend hat sich das manifestiert. Ich hab mich als Dicke sehr fremd gefühlt, wie ein anderer Mensch. Habe mich ausgestoßen gefühlt. Überall habe ich mich erst mal umschaut, ob mich jemand anstarrt. Ich gehörte zu einer Randgruppe: den Fetten. Damit stach ich optisch stark aus der Gesellschaft heraus.

Ich war dem Essen verfallen. Und wollte einfach nur schlank sein. Missglückte Versuche, magersüchtig zu werden, führten zu Fressattacken. Alkohol war auch keine Lösung, weil ich die Auswirkungen mit meiner Großmutter, meiner Mutter und ihren diversen Partnern verbinde. Alkohol definiere ich mit Kontrollverlust. Und ich behalte gerne die Kontrolle. Vielleicht habe ich deshalb die Esssucht gewählt.

Wie viele andere Dicke hatte ich schon Probleme, mich durch den Alltag zu bewegen. Doch ich war immer gepflegt, hatte nie fettige Haare gehabt, war nie faul. Ich wollte ja nicht noch mehr auffallen.

Klar gibt es selbstbewusste Menschen mit Übergewicht. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass ich nicht gut genug war für meine Umgebung. Ich musste mir anhören, wie über Dicke gelästert wurde: 'Der Fettsack', 'schau mal, wie das bei der schwabbelt'.

Mein Dauerhungergefühl hat alles zunichtegemacht

Ich versuchte diverse Diäten, doch alle haben mich nur aggressiv gemacht. Sport habe ich nicht durchgehalten. Es ging mir dabei auch mit dem Abnehmen nicht schnell genug und ich hatte danach immer wieder Hunger. Ich fragte mich: Wieso hast du Sport gemacht, wenn du jetzt wieder irrsinnigen Appetit hast? Mein Dauerhungergefühl hat alles wieder zunichtegemacht. Manchmal dachte ich natürlich: Andere Leute haben nichts zu essen und ich stopfe mir alles rein. Aber geholfen hat das auch nicht.

Dann kamen unglückliche Beziehungen. Ich hatte Beziehungen zu verheirateten, vorzugsweise älteren Männern, was nicht funktionieren konnte. Habe mich in Affären gestürzt, die von vornherein zum Scheitern verurteilt waren. Zur Einsamkeit kam nach den Trennungen die Traurigkeit. Mein Herz war gebrochen, meine Seele erschüttert. Immerhin Essen füllte mich aus, reduzierte meine innere Leere.

Mit dem Gefühl der Liebe hadere ich grundsätzlich. Oft habe ich den Anker in Männern gesucht. Mein langjähriger Freund ist zwar wie ein sicherer Hafen, zu dem ich immer wieder zurückkehren kann. Aber heute brauche ich nicht mehr zwingend einen Mann. Damals habe ich mich über Aufmerksamkeit definiert. Habe ich Ablehnung gespürt, dann wurde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Schließlich musste ich erkennen, dass das nicht am Mann liegt, sondern an mir.

Immer wieder habe ich nach meiner Droge gegriffen, wenn mir was fehlte. Ich aß weiter. Verdrängte weiter. Noch beim Nachtisch kreisten meine Gedanken um die nächste Nahrungsbeute. Mit 100 Kilo hatte ich eine Dimension erreicht, in der es auf zehn, 20 oder 30 Kilo mehr nicht mehr ankam. Wird eine Hemmschwelle überwunden, nimmt das Schicksal seinen Lauf und man stellt sich auch nicht mehr auf die Waage. Mein Gewicht stieg und stieg. Mit Ende 20 hatte ich mich nahezu verdoppelt.

Meine körperlichen Schwierigkeiten wurden immer schlimmer. Mit noch nicht einmal 30 Jahren steuerte ich körperlich und psychisch auf das Ende zu. Ich versuchte einige Psychotherapien, aber die waren eher kontraproduktiv für mich. Ich habe mich nur als Nummer gefühlt, die abgearbeitet wird. Auch zwei Klinikaufenthalte in psychosomatischen Kliniken brachten am Ende den Jo-Jo-Effekt. Der nagende Hunger war nicht zu stoppen.

Ich hatte alles versucht und entschied mich dann zu einer Magenverkleinerung. Zwar gab es Bedenken aus meinem Umfeld: Die Psyche wird ja nicht mitoperiert, das Hungergefühl sitzt im Kopf, und so weiter. Doch es war die beste Entscheidung meines Lebens, meine zweite Geburt. In wenigen Monaten verschwanden mehr als 30 Kilo. Ich empfand erstmals nach Jahren wieder ein Völlegefühl, allein das gab mir neue Energie. Nach und nach schrumpfte ich von 158 Kilo auf heute 78 Kilo bei einer Größe von 1,78 Metern.

Allerdings hatte ich 18 Monate nach der OP noch ein schlimmes, einschneidendes Erlebnis: Ich besuchte mit einem Freund eine Striptease-Bar. Obwohl wir nur eine platonische Beziehung hatten, war ich von seiner Aufmerksamkeit abhängig. Jedenfalls räkelten sich da in Dessous und Micro-Bikins gut gebaute Frauen an der Stange. Ich sah das Leuchten in den Augen der Männer und kam mir vor wie das Letzte. Als dann eine Frau mit locker dreißig Kilo mehr als ich in weißen Dessous an uns vorbei ging, sagte der Freund: 'Das ist eine Frau, die alles hat. Alles so schön stramm und fest.' Bei mir war das zu diesem Zeitpunkt noch das Gegenteil. Zwar hatte ich mein Gewicht drastisch reduziert, aber ich hatte starke Dehnungsstreifen, meine Haut war an vielen Stellen schlaff. Dieser Kommentar versetzte mich in einen Schockzustand: Wieder fühlte ich mich so minderwertig, so hässlich, so unvollkommen. Mir kamen die Tränen und es machte mir deutlich, wie verletzt meine Psyche war.

Ich entschloss mich zu weiteren Schönheitsoperationen. Schließlich sah mein Körper an manchen Stellen aus wie der einer achtzigjährigen Frau. Nach und nach habe ich machen lassen, was ich mir finanziell leisten konnte. Jetzt sind die Beine noch dran. Ab der Hüfte abwärts möchte ich mich noch nicht betrachten und zeigen.

Es geht nicht nur um Schönheit alleine, sondern darum, mein Selbstbewusstsein wiederzufinden. Bislang habe ich 21 500 Euro dafür ausgegeben. Aber das ist eine Frage der Relation: Viele Menschen fahren zwei- bis dreimal in den Urlaub, haben tolle Autos für 60 000 Euro. Wieso sollten die mich verurteilen, wenn ich einen Bruchteil davon in die Wiederherstellung meines Körpers investiere, um mir meine Lebensqualität zu erhalten? Als Luxusproblem empfinde ich das nicht. Es ist nicht billig, aber es ist es wert. Ich habe für mein Wohlbefinden bezahlt, wie andere für materielle Dinge. Ich wollte wieder ganz sein.

Auf meinem Weg hilft mir der Wille, niemals mehr da zu landen, wo ich mal war. Ich habe heute noch Stimmungsschwankungen, gerate schnell in Aufruhr, verspüre Wut. Früher habe ich mich lange in einer melancholischen Trauerstimmung befunden, aus der ich kaum raus kam.

Essen kann für mich noch heute Belohnung, Ablenkung und Halt sein. Aber ich habe das unter Kontrolle. Dünn sein ist für mich auch nicht perfekt, weil man dann die ganzen Knochen sieht. Ich bin nicht schlank, mein Gewicht schwankt heute zwischen 78 und 83 Kilo, aber ich fühle mich wohl in meiner Haut. Mir ist auch klar geworden, dass ich meine Sturm-und-Drang-Zeit verpasst habe. Jetzt will ich vieles nachholen."

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Sandra Selbach, 41, lebt in einer Kleinstadt nahe Köln, arbeitet als Büroangestellte und nebenbei als Plus-Size-Model. Gerade ist ihr Buch erschienen: "Durch dick und dünn", Schwarzkopf und Schwarzkopf, 9,99 Euro.

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