Abenteuer:Das Eis ruft

Hochsaison am Nordpol: In der Basisstation für Expeditionen ins ewige Eis wird es eng - jetzt beginnt die beste Reisezeit für Abenteuer in der Arktis.

Birgit Lutz-Temsch

Als auch noch ein Sturm aufzieht, ist das Schicksal der Männer besiegelt. Sie hatten überlebt, als ihr Schiff, die Jeanette, vom wütenden Packeis zerquetscht wurde, sie hatten die schweren Rettungsboote in zermürbender Kälte über das Eis gewuchtet und voller Hoffnung auf Rettung die Neusibirischen Inseln erreicht. Doch dann kam der Sturm auf dem Weg von den Inseln zum Festland - er trennt die Boote voneinander, eines verschwindet, nur eine kleine Gruppe wird von jakutischen Jägern gerettet. Die anderen?

Ein Suchtrupp findet Monate später an einer Uferböschung die Leichen von sechs Männern. 500 Meter entfernt entdecken sie George Washington DeLong, den Leiter dieser unglückseligen Expedition im Jahr 1881, die den Nordpol zum Ziel hatte. Seine kalte Hand ragte aus den Schneewehen. Auf der letzten Seite seines Tagebuchs fand sich der Eintrag: "Samstag, 29. Oktober. 139. Tag - Dressler starb in der Nacht. Sonntag, 30. Oktober. 140. Tag - Boydt & Gertz starben in der Nacht. Collins liegt im Sterben" - so endet die Aufzeichnung.

Die Jeannette-Expedition war nicht die einzige, die ein übles Ende nahm. Die Historie der Arktisentdeckung ist voll von schier unglaublichen Geschichten. Unglaublich, weil es schlicht die Vorstellungskraft sprengt, was Menschen aushalten können und wozu sie in der Lage sind, wenn es um das blanke Überleben geht. Was treibt Menschen dazu, sich diesen Qualen auszusetzen?

Wäre es allein der Forscherdrang, wäre das Interesse am Weg durch Eis und Wasserlöcher 1909 erlahmt, als Robert Edwin Peary als Erster den Nordpol erreichte. Aber noch heute kämpfen sich jedes Jahr aufs Neue Expeditionen durch das arktische Eis. Dabei gibt es nichts mehr zu entdecken, und längst ist bekannt, dass dort oben, jenseits eines Eisrings, kein offenes Meer mehr wartet, wie man früher annahm. Es ist etwas anderes.

Thomas Ulrich sagt: "Arktisexpeditionen sind mental anspruchsvoller als das Besteigen hoher Berge." Der Schweizer kennt beides - jahrelang war er als Extremkletterer, Abenteuerfotograf und -filmer unterwegs, filmte eine Dokumentation über kommerzielle Besteigungen des Mount Everest für das Schweizer Fernsehen. Dann wandte er sich dem Eis zu, für ihn eine konsequente Weiterentwicklung. Er ging vom Nordpol nach Franz-Joseph-Land und fuhr mit einem Segelschiff auf Fridtjof Nansens Spuren weiter nach Norwegen.

Die Kälte aushalten - im Kopf

"Auch auf den hohen Bergen fühlt man sich nicht so verloren, nicht so weit von allem Leben entfernt wie in der Arktis. Man muss dieses Gefühl aushalten, über Tausende Kilometer der einzige Mensch zu sein. Hinzu kommt die Kälte, die einen physisch und fast mehr noch psychisch fordert", sagt er. Ulrich führt jedes Jahr Abenteurer über den letzten Breitengrad zum Pol. Etwa 120 Kilometer weit ist diese Strecke, die an der russischen Drifteisstation Barneo beginnt; je nach Eisdrift kann sie länger oder kürzer werden.

Expeditionen wie diese gelten als "Partial North Pole Travels" - wer die sogenannte Last-Degree-Expedition hinter sich gebracht hat, darf zwar dieses Label für sich beanspruchen, aber noch lange nicht behaupten, zu Fuß zum Nordpol gegangen zu sein. Das dürfen nur diejenigen, deren Weg nicht erst mitten im Eis, sondern an Land begonnen hat, an der sibirischen oder kanadischen Küste.

Die Königsklasse sind die "Unassisted-Unsupported-Expeditionen", die ausschließlich mit menschlicher Kraft unterwegs sind, weder Hunde noch Kites dabeihaben und sich auch keine Vorräte aus der Luft abwerfen lassen. März, April und Mai ist Hochsaison; in diesen Monaten ist es schon wieder hell, aber noch kalt genug dafür, dass das Eis auch in den südlichen Abschnitten noch trägt und es eine durchgehende Eisfläche vom Land zum Pol gibt. Drei Teams sind jetzt auf diese puristische Weise unterwegs.

Der Australier Tom Smitheringdale ist vom kanadischen Ward Hunt Island zu seiner Solo-Tour aufgebrochen, genauso wie der Italiener Michele Pontrandolfo. Die Briten Amelia Russell und Dan Darley sind von Cape Discovery in Kanada gestartet. Die Schwierigkeit bei den Expeditionen ohne Unterstützung ist vor allem das Gewicht der Schlitten. Essen und Brennstoff für die gesamte Dauer muss von Anfang an mitgetragen werden; das Anlegen von Depots ist nicht möglich, weil das Eis driftet. Die Schlitten wiegen pro Person leicht 150 Kilogramm - auch wenn die heutige Ausrüstung mit den schweren Gerätschaften der Jeannette-Expedition nicht mehr zu vergleichen ist.

Aber auch mit Plastik- und Funktionsausrüstung - einfacher sind die Wege nicht geworden. Und so kommen in diesen Tagen beunruhigende Nachrichten per Satellit aus dem Eis. Tom Smitheringdale hat Erfrierungen an den Füßen, versucht sich mit Wärmebeuteln vor weiteren Schäden zu schützen und geht weiter. Noch schlimmer Michele Pontrandolfo: Auch er hat Erfrierungen am rechten Fuß, dazu sind seine Schneeschuhe irreparabel gebrochen. Er ist nun ohne Schneeschuhe auf dem verwehten Packeis unterwegs, aber aufgeben will er vorerst nicht. Bessere Neuigkeiten kommen vom britischen Team: Russell und Darley sind sich uneins darüber, wer morgens als Erster aus dem Zelt muss.

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