Abenteuer Arktis:Eiskalt unterwegs

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Das Camp Barneo im arktischen Eis ist für vier Wochen im Jahr ein skurriler Treff für Abenteurer. Eine Reise ins Polarmeer.

Birgit Lutz-Temsch

Der Morgen ist am härtesten. Der Schlafsack ist rund um die Atemöffnung steifgefroren, mit einer weißen Eisschicht überzogen. Am Zeltdach glitzern Kristalle. Wenn sich der in dünnes Fleece gehüllte Polarreisende aus dem Daunenberg schält, stürzt sich die Kälte auf ihn wie ein hungriger Wolf. 29 Grad unter null bieten nur ein kurzes schmerzloses Zeitfenster.

(Foto: Foto: bilu)

Jede Faser des Körpers schreit nach Schutz. Schnell muss es gehen: Als erstes die Handschuhe überziehen. Mit zitternden Fingern die Düse des Benzinkochers öffnen. Kerosin über den Brenner fließen lassen. Das wundervolle Geräusch eines zündenden Streichholzes erzeugt einen Pawlowschen Reflex: die unbändige Freude darauf, dass der Körper Hilfe bekommt, wenigstens kurzzeitig nicht mehr die einzige Wärmequelle in einer Wüste aus Eis ist.

Die blaue Flamme schafft es: Die Kälte weicht hinter die gelbe Zeltwand zurück. Doch jeder Windstoß erinnert daran, dass sie dort wartet, bissig und gefährlich, unausweichlich, unerbittlich. Und der Wind ist hart an diesem Morgen, nördlich des 89. Breitengrads. 15 Meter pro Sekunde. Auf der Haut verwandelt er die 29 Grad minus in etwa 65 Grad unter null. Er lässt die Augen tränen und die Wimpern vereisen. Man überlegt sich gut, welche Körperpartien man diesem Wind aussetzt.

Im Jahr 2008 mag vieles einfacher geworden sein für Menschen, die sich in polare Regionen begeben. Flugzeuge, Hubschrauber, Satellitentelefone und Navigationsgeräte sind die modernen Hilfsmittel, mit der die Arktis erobert wird - niemand muss mehr monatelang festgefroren im driftenden Eis ausharren, bei dem verzweifelten Versuch, den Pol zu erreichen. Der Mensch hat auch diese Distanz bezwingbar gemacht.

Das Einzige, was geblieben ist, was der Mensch zur Hebung des Komforts nicht beliebig verändern kann, und dem er sich demnach noch immer stellen muss - ist die Kälte.

Und vielleicht sind es gerade die tiefen Temperaturen, die manche Menschen in die Arktis ziehen. Menschen wie den Schweizer Georg Baumann. Der massige Mann mit dem schwarzen Wuschelkopf sitzt in einem MI-8-Hubschrauber, der ihn an den Startpunkt seiner Expedition bringen soll. Baumann hat sich in den Kopf gesetzt, irgendwann den Nordpol vom russischen Festland aus zu erreichen.

Derlei Unternehmungen starten vom Russischen Kap, dem nördlichsten Punkt des Sewernaja-Semlja-Archipels. 990 Kilometer sind es von dort zum Pol. Baumann hat das bereits versucht. Doch schon am zweiten Tag fackelte er mit dem Benzinkocher sein Zelt ab. Setzte einen Notruf ab, an den wohl einzigen Menschen, den man in dieser Situation rufen kann, den Russen Victor Boyarsky.

Der quirlige und chronisch gut gelaunte 57-Jährige hat zwei Jahrzehnte als Wissenschaftler im Eis gearbeitet, hat Grönland, Arktis und Antarktis in legendären Expeditionen durchquert, und danach die Agentur Vicaar gegründet, die Infrastruktur für Expeditionen und verschiedenste Projekte in Arktis und Antarktis stellt. "Ich habe kein Zelt mehr. Georg.", lautete die Kurzmitteilung auf seinem Satellitentelefon. "Eine sagenhafte Nachricht", sagt Boyarsky, als er vor dem Mannschaftszelt des Eis-Camps Barneo steht. "In der Arktis sein Zelt zu verlieren, ist, sagen wir mal, ungut. Aber wie sollte ich ihm ohne seine Koordinaten helfen?" Baumanns Rettung gelang. Jetzt geht er erst einmal nur den letzten Breitengrad, etwa 100 Kilometer, mit Führer.

Der Treffpunkt von Menschen wie Baumann, die eine seltsame Faszination des Eises und der Kälte gepackt hat, die sie oft selbst nicht erklären können, ist das temporäre Eiscamp Barneo, wohl einer der skurrilsten Plätze der Welt: eine Ansammlung von vielleicht 15 geräumigen Zelten, daneben eine Landebahn, gerade 800 Meter lang.

Mitten im weißen Nichts. Etwa vier Wochen pro Jahr steht Barneo auf dem gefrorenen Polarmeer. Jeden Tag fliegen Hubschrauber aus dem Camp gen Norden und setzen Teams wie das von Baumann aus.

Barneos Geburtsstunde liegt noch in Zeiten der Sowjetunion, als das staatliche Interesse an Drifteisstationen groß war. Als das in den Neunzigern nachließ, wollten Boyarsky und sein Partner, Alexander Orlov vom ,,Arktischen und Antarktischen Expeditionszentrum Center Polus'' ihr Wissen, wie man derartige Stationen baut, kommerziell nutzen. Zudem wollten sie Wissenschaftlern die Möglichkeit geben, weiterhin im driftenden Eis zu arbeiten. Center Polus hat zum Beispiel die derzeit in der Arktis driftende Station NP-35 realisiert.

Ausgerechnet die Kälte hätte die Barneo-Saison 2008 beinahe verhindert: Am 25. März sitzt Boyarsky in dem Ausrüstungslager neben dem Flughafen in Longyearbyen auf Spitzbergen. Er diskutiert gestenreich mit Orlov. Der Traktor, der per Fallschirm im Eis abgeworfen wurde, streikt. Zum dritten Mal. Weil an dem Ort, an dem Barneo entstehen soll, 1350 Kilometer nördlich von Longyearbyen, die Temperatur auf 42 Grad unter null gefallen ist.

Der Traktor soll eine Landebahn in die zerfurchte Eisoberfläche ebnen. Für die beiden gecharterten Antonows, die erst das komplette Camp und dann die Gäste auf das Eis bringen sollen. So entsteht Barneo jedes Jahr - ein gigantischer Aufwand. Zweimal haben bereits Maschinen Ersatzteile abgeworfen. Jetzt beschließen Boyarsky und Orlov eine spektakuläre Aktion: Sie fliegen 400 Kilometer weit nach Norden, mit einem MI-8-Hubschrauber. Ihnen entgegen kommen die beiden Helikopter aus Barneo, einer davon nur mit Treibstoff beladen. Mitten im Eis treffen sich die Hubschrauber und tauschen neue Ersatzteile aus.

Diese Aktionen sind gefährlich - und teuer. Eine arktische Hubschrauberstunde kostet 9500 Euro. Ein Flug ins Eis mit einer Antonow etwa 90.000 Euro. Und deswegen kostet eine Skitour, bei der man vom 89. Breitengrad zum Pol geht und dort wieder abgeholt wird, um die 19.000 Euro.

Ob das nicht alles völlig wahnsinnig sei, fragt man Boyarsky, so viele Flüge für ein paar Ersatzteile? Und das alles in Zeiten des Klimawandels - nur so zum Spaß? Boyarsky schüttelt den Kopf. Er, der sein halbes Leben in entlegensten Gebieten zugebracht und dort komplizierte Projekte umgesetzt hat, hat ein etwas anderes Verhältnis zu Flugkilometern und dem Wort "Aufwand". Der Poltourismus hat zurzeit viele Kritiker, viel mehr als der Billig- und Massentourismus in anderen Gebieten, der seine zerstörerische Kraft schon lange entfaltet hat.

Boyarsky sieht diese Kritik gelassen. "Die Arktis ist ein im Wortsinn wundervolles Gebiet. Manche Menschen begreifen nicht, was wir hier tun. Andere packt, sobald sie einmal im Eis waren, dieselbe Faszination und Liebe zu dieser Umgebung wie uns. Diese Menschen nehmen etwas sehr wichtiges für ihr eigenes Leben mit."

Das sagt auch einer der Führer durch das Eis, der Australier Eric Philips. Sein Unternehmen Icetrek ist garantiert Kohlendioxid-neutral. Für jeden Flugkilometer auf seinen Touren und jeden Bleistift in seinem Büro zahlt er Klima-Abgaben. "Ich habe noch keinen Kunden gehabt, der nicht verändert aus der Arktis zurückgekommen wäre", sagt er. "Die Leute werden gelassener, sportlicher, haben mehr Selbstvertrauen - und das rechtfertigt für mich diesen Aufwand. Und sie nehmen von hier eine neue Demut mit, vor der Kraft der Natur."

Was man aus dem Camp auf jeden Fall mitnimmt, ist die Wärme, die das russische Team inmitten der Kälte verbreitet. Wer sich auf der Suche nach einem warmen Essen in das Zelt der Piloten verirrt, darf mit ihnen aus einer runden Pfanne Makkaroni löffeln, muss nur ab und zu einen großen Schluck Wodka nehmen, lernt, was "nur noch ein ganz Kleiner" auf Russisch heißt und wird fortan jeden Tag zum Borschtsch eingeladen. In dem engen Zelt, in dem ein russischer Ofen aus dem Jahr 1981 vor sich hinbollert, zeigen die Piloten dann Bilder ihrer Familien.

Die meisten von ihnen kommen aus dem nordsibirischen Norilsk, sie sprechen kaum Englisch, aber irgendwie versteht man doch, dass Sergej schon seit sieben Jahren nach Barneo kommt, dass sein Großvater und Vater Piloten waren, und dass auch sein Sohn wieder einer ist. Und dass es nichts Schöneres gibt, als in einem Hubschrauber über die Weiten der Arktis zu fliegen. Zwischen den mit vielen Gesten gestellten Fragen hält man immer wieder dick mit Butter bestrichenes Gebäck oder Streifen eines gefrorenen Fischs in der Hand, weil man nach Ansicht der stämmigen Männer nicht genügend Fleisch auf den Rippen hat, um in der arktischen Kälte zu überleben.

Denn die Piloten fliegen einen schließlich noch weiter nach Norden, immer weiter über nichts als Eis. Bei der Landung heulen die Rotoren des Hubschraubers. Wirbeln Millionen glitzernder Pulverschneekristalle in die Luft. Mit einem hohlen Krachen landen die Schlitten aus dem Heck des Helikopters auf dem Eis. Die Tourengeher springen hinterher, werfen sich über ihr Gepäck, ein kurzes Winken.

Dann sind die Skifahrer allein. Und marschieren Stunde um Stunde Richtung Pol. Über meterhohe Aufwürfe im Eis. Durch ein Licht, das wohl der zweite Grund ist, warum es manche Menschen immer wieder dorthin zieht. Obwohl die Sonne rund um die Uhr fast in gleicher Höhe über dem Horizont hängt, ändert sich das Licht ständig. Mal ist es klar, dünn und silbern, das Weiß des Schnees blendet in den Augen. Mal ist es blau, wenn unter dem Schnee das Eis hindurchschimmert. Und wenig später scheint es dick und golden, wenn die Sonne hinter einem Dunstschleier verschwindet.

Am Abend im Expeditionszelt liegt die Signalpistole, die im Notfall Eisbären vertreiben soll, immer griffbereit. Und dann sehnt man sich nach dem reichhaltigen Borschtsch der Piloten, als selbst der abgehärtete Boyarsky beim Blick in den Napf mit Trockenfleisch sagt: "Wenn ich das aufesse, fange ich an zu bellen."

Warum wollen Menschen über ein zugefrorenes Meer marschieren? Der Ecuadorianer José Jijon war auf den höchsten Gipfeln eines jeden Kontinents. Als letzte Herausforderung wollte er zum Nordpol, verkaufte dafür sogar sein Motorrad. Aber die starke Drift in südlicher Richtung macht José einen Strich durch die Rechnung. Denn die Strecke, die José und sein Führer tagsüber auf den Pol zumarschieren, driften sie in der Nacht wieder zurück. Eine Sysiphos-Wanderung. Josés Führer berichtet bei dem abendlichen Pflichtanruf aller Guides auf dem Satellitentelefon Boyarskys, dass José mit der Kälte nicht zurechtkäme.

Am dritten Tag will José aufgeben. Boyarsky weigert sich. "Wo kämen wir hin, wenn wir alle abholen würden, nur weil sie keine Lust mehr haben? Das gehört dazu - man muss sich hier manchmal auch durchbeißen. Das ist die Arktis."

© SZ vom 30.04.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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