Armutszeugnis:Wie fehlender Wohlstand die Lebenserwartung dämpft

Wer arm ist, muss früher sterben - das ist das Ergebnis einer jüngst veröffentlichten Studie. Die Regierung hat die Interpretation umgehend für falsch erklärt und beruft sich auf die bekannten Risikofaktoren wie falsche Ernährung und mangelnde Bewegung. Doch damit versucht ein immer noch reiches Land sein eigenes Versagen in der Arbeits- und Sozialpolitik zu vertuschen.

Werner Bartens

Männer und Frauen haben es doch auch geschafft: Sie gleichen sich einander langsam wieder an, zumindest in der Lebenserwartung. Der Vorsprung der Frauen hatte in den 1970ern mehr als sieben Jahre betragen, seitdem ist er aber kontinuierlich geschmolzen und liegt jetzt nur noch bei etwa fünf Jahren.

Arm und alt in Deutschland

38 Jahre hat Manfred Birk als Handwerker geschuftet. Mit seiner Rente kann der fast 80-Jährige heute kaum seinen Lebensunterhalt, geschweige denn einen schönen Lebensabend finanzieren.

(Foto: dpa)

Die Erklärung ist einfach: Immer weniger Männer üben riskante Berufe aus. Und immer mehr Männer verhalten sich in Freizeit wie Beruf umsichtiger und gesundheitsbewusster; sie rauchen und trinken weniger, essen ausgewogener.

Die Schere der Lebenserwartung klafft grotesk auseinander

Bei Arm und Reich hat es noch nicht geklappt. Die Schere in der Lebenserwartung klafft weiterhin grotesk auseinander. Uneinig sind sich Sozialmediziner allenfalls darüber, um wie viele Jahre ein Mensch kürzer lebt, wenn er schlecht ausgebildet ist und sein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze liegt. Sieben Jahre Unterschied wurden und werden für Deutschland postuliert, gelegentlich ist bei Männern sogar von einer um bis zu elf Jahre divergierenden Lebenserwartung die Rede. Bei Frauen ist die Differenz wohl geringer, die Datenbasis aber auch dünner.

Aufgeschreckt wurden Politiker wie Sozialexperten in dieser Woche durch die Meldung, dass die Unterschiede in der Lebenserwartung in Deutschland gegenwärtig zunehmen, wenn man den sozioökonomischen Status berücksichtigt. Demnach wäre die Lebenserwartung von Geringverdienern um zwei Jahre gesunken - während sie für die Gesamtbevölkerung weiterhin leicht ansteigt.

Umgehend wurde Kritik an der Methodik der Datenerhebung laut, das Arbeitsministerium erklärte die Interpretation für falsch.

Das schnelle Dementi der Bundesregierung verschleiert gleich mehrere Skandale: In Deutschland sind eben nicht die allenthalben angemahnten Risikofaktoren wie Cholesterinanstieg, Bluthochdruck, Fettleibigkeit oder Bewegungsmangel die größten Gefahren für die Gesundheit.

Die Zugehörigkeit zu einer niedrigen und bildungsfernen sozialen Schicht stellt vielmehr die heftigste Bedrohung für Leib und Leben dar. Es geht nicht um Lipidstörungen, entgleiste Blutzuckerspiegel oder schlechte Eisenwerte. Wer arm ist, muss früher sterben - ein Armutszeugnis für ein immer noch reiches Land, das es von politischer Seite offenbar schnell hinwegzuwischen gilt.

Die Begründung für die niedrigere Lebenserwartung der Geringverdiener, Arbeitslosen und anderweitig zu kurz gekommenen war lange Zeit erstaunlich schlicht. Die Schuldzuweisung an die Unterprivilegierten funktionierte zuverlässig: Wenn ihr das Falsche esst, euch zu wenig bewegt und dabei nach und nach verfettet, müsst ihr euch nicht wundern, wenn eure Kranzgefäße und Hirnarterien verkalken und ihr früher sterben müsst.

"Dick, doof und arm?" (Droemer), lautet der Buchtitel des Bremer Soziologen Friedrich Schorb, der das gängige Vorurteil auf den Punkt brachte und die medizinisch verbrämte Diskussion um richtige Ernährung und falsches Übergewicht als fette Lüge entlarvte.

Es ging um eine Klassen- und keine Massenfrage, wie die entsprechenden politischen Kampagnen zeigten. Sie folgten schließlich dem bekannten Muster Erziehen und Demütigen. Auf die "Nationale Verzehrstudie" folgte der "Nationale Aktionsplan Ernährung", Gesundheitsminister versuchten mit Initiativen wie "3000 Schritte" das lethargische Volk vom Sofa zu locken.

Disziplinierungsmaßnahmen für das Prekariat

"Keine Happy Meals für die Unterschicht" - mit diesem Motto hat Friedrich Schorb die Disziplinierungsmaßnahmen für das Prekariat zusammengefasst. Schluss mit dem faulen Leben auf der Couch - statt es sich mit Hartz IV und RTL 2 gemütlich einzurichten und sich dabei eine Fertigpizza warm zu machen, soll fortan mit Trennkost und Nordic Walking frisch und alert die Fettschürze abgeschmolzen werden, um fit für den Arbeitsmarkt zu sein.

Mehr alte Menschen in Ostdeutschland

Die Lebenserwartung von Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, sinkt. Im Gegensatz zum allgemeinen Trend.

(Foto: dpa)

Selbstdisziplin beim Essen, Maß halten beim Gewicht, und wenn nicht der Marathon, dann bitte schön die Teilnahme am Firmenlauf gelten längst als Kennzeichen des leistungsbereiten High-Performers, auf den bei der Arbeit Verlass ist und der gern noch eine Schippe drauflegt. In einer Gesellschaft, in der theoretisch jeder genug zu essen oder ein Überangebot an Lebensmitteln vor sich hat, zeugt es von Leistungswillen und Konzentration auf das Wesentliche, wenn man die Nahrungsaufnahme beschränkt und sich nicht der Völlerei hingibt.

Ursache für Leid und frühen Tod liegt in Arbeits- und Lebensverhältnissen

Um ungesundes Essen, zu hohes Gewicht und mangelnde Bewegung geht es aber längst nicht mehr, wenn Gründe für das kurze Leben mit wenig Geld und geringer Bildung gesucht werden. Zwar mögen Geringverdiener die Praxisgebühr scheuen und seltener den Arzt aufsuchen. Die Hauptursache für Leid und frühen Tod ist aber in den Arbeits- und Lebensverhältnissen selbst zu suchen.

Inzwischen zeigen etliche Untersuchungen, wie sehr sich berufliche Unsicherheit, ökonomische Krisen, Existenzangst und finanzielle Not auf die Gesundheit auswirken. Die Beispiele sind ebenso vielfältig wie gut belegt: Der unzufriedene Arbeiter, der sich müht und dennoch nicht vorankommt, hat ein dreifach höheres Risiko als sein gleichaltriger Fabrikdirektor, einen Herzinfarkt zu erleiden. Nach jeder Wirtschaftskrise folgt zuverlässig mit einer Latenz von eineinhalb bis drei Jahren eine Zunahme der Herzinfarkte und Schlaganfälle.

Rückenleiden sind in statistisch beeindruckendem Umfang hauptsächlich das Leiden der beruflich Unterdrückten und Entwerteten. Gratifikationskrisen nennen Ärzte und Psychologen den Zustand, in dem man sich ständig müht, aber für seine Arbeit weder mehr Geld noch mehr Verantwortung noch eine andere Form der Anerkennung bekommt.

Angst und Unsicherheit erhöhen die Empfindlichkeit für Schmerzen. Unklare Schmerzsyndrome - ob sie nun den Kopf oder den Bewegungsapparat betreffen - sind neben psychischen Erkrankungen die Leiden, die in den Statistiken der Arbeitsausfälle immer häufiger auftauchen.

Besserung ist nicht zu erwarten: Der Niedriglohnsektor ist in Deutschland so groß wie nie und einen sicheren Arbeitsplatz hat als einziger Deutscher wohl nur noch der Papst.

"Krankheit gilt als Nicht-Funktionieren"

Der OECD-Report 2011 hat in seinem Bericht "Divided We Stand - Why Inequality Keeps Rising" festgehalten, dass in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts die Ungleichheit nirgendwo so stark zugenommen hat wie in Deutschland und Dänemark, zwei Staaten, die traditionell immer vergleichsweise geringe soziale Unterschiede aufwiesen.

Vermutlich werden sich gesundheitliche Einschnitte bald in allen Schichten zeigen. Der flexibilisierte Arbeitsmarkt geht zwar auf den ersten Blick mit mehr Freiheiten für den Einzelnen einher. "Aber ist der Arbeitsplatz in Gefahr, sind Menschen bereit, sich mehr zuzumuten. Krankheit gilt als Nicht-Funktionieren. Das erlaubt man sich nicht, erst recht nicht in Krisenzeiten", diagnostiziert der Freiburger Soziologe Ulrich Bröckling in seinem Buch "Das unternehmerische Selbst" (Suhrkamp). "Und Freiheit und Flexibilität sind gleichzeitig mit entgrenzten Erwartungen verbunden. Man wird nie mit etwas fertig und kann die Ansprüche nie ganz erfüllen. Überstunden und der Druck nehmen zu, weil mehr Freiheit und Flexibilität an mehr Wettbewerb gekoppelt sind. Das ist die Kehrseite von mehr Freiheit."

Wie sehr sich soziale Unterschiede und Verhaltensmuster auf die Lebenserwartung von Mann und Frau auswirken, haben Untersuchungen im Kloster gezeigt. Bei Priestern und Nonnen gleicht sich mit dem ähnlichen Alltag die Lebenserwartung auf ein Jahr an, der Zwölfmonatsrest ist wahrscheinlich tatsächlich nur biologisch zu erklären.

Zwischen Arm und Reich gibt es keinen biologischen Unterschied. Hier wäre eine totale Angleichung der Lebenserwartung theoretisch möglich, stattdessen sprechen etliche Hinweise und Tendenzen dafür, dass sich die Differenz vergrößert. Sozialpolitisch wäre das eine Hiobsbotschaft. Die neuen Daten von dieser Woche sind methodisch angreifbar. Bittere Wahrheiten enthalten sie womöglich trotzdem.

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