Kinder - der ganz normale Wahnsinn:Du hast mich viel weniger lieb!

Es ist wunderbar, Brüder oder Schwestern zu haben. Eigentlich. Wenn nicht die Eltern immer den anderen bevorzugen würden, selbst wenn sie das vehement abstreiten. Für diese alltägliche Ungerechtigkeit gibt es erschreckende Beweise.

Katja Schnitzler

Tipps für die Erziehung von Kindern im Kindergarten-Alter

Noch sind sie friedlich, die Geschwister. Bis die Eifersucht wieder zuschlägt.

(Foto: J. Hosse)

Der Prozess beginnt kurz vor Mitternacht. Auf der Anklagebank fährt die Mutter zusammen, als der Richter mit lauter Stimme verkündet: Nun sei die Zeit gekommen, die Vorwürfe gegen die Beklagte vorzutragen. Sogleich springen die Kläger T. (Tochter) und S. (Sohn) auf. Es entsteht ein Gerangel, weil beide versuchen, als Erster den Richtertisch zu erreichen. T. ist schneller: "Unsere Mutter hat S. viel lieber als mich!" S. versetzt T. einen Ellenbogenhieb: "Herr Richter, das stimmt nicht, im Gegenteil! Glauben Sie ihr kein Wort! Unsere Mutter liebt T. mehr als mich!"

T. tritt S. vors Schienbein, um ihn abzulenken. Schnell geht sie zum Richterpult und sagt eindringlich: "Herr Vorsitzender, ich habe Beweise, die zeigen, wie sehr unsere Mutter S. bevorzugt, in schändlicher Verletzung ihrer elterlichen Pflicht zur absoluten Gleichbehandlung!"

"Beweise? Ha! Die habe ich auch", ruft S. leicht gepresst, weil er immer noch in der Hocke kauert und sein schmerzendes Bein reibt. Die Mutter rutscht auf der Anklagebank nervös hin und her: "Herr Richter, wenn ich kurz erklären dürfte ..." Doch der Richter unterbricht sie: "Nein. Mich interessieren Fakten, keine Erklärungen. Sie haben das Schlusswort, bis dahin sind Sie gefälligst ruhig! Die beiden Kläger mögen mit ihrer Beweisführung beginnen."

"Sehr gerne", sagt T. mit einem triumphierenden Seitenblick zur Mutter, zieht eine Liste hervor und übergibt sie dem Richter. "Sind das Tomatensoßenflecken auf dem Papier?", fragt er. "Ja, aber die sind für den Fall völlig unerheblich", erwidert T. hastig. Wesentlich sei, dass diese Liste zeige, wie sehr S. von der Mutter bevorzugt werden, jeden Tag, morgens, mittags und abends! Der Richter liest laut vor: "Besteck mit gewöhnlicher Tier-Gravur am Griff: T. zwölf Mal, S. vier Mal; Besteck mit Dinosaurier-Gravur am Griff: T. vier Mal, S. zwölf Mal."

"Sehen Sie?", ruft T. erregt. "Nein", sagt der Richter. "Ich bekomme IMMER das langweilige Tier-Besteck, und S. das tolle mit den Dinosauriern. Das ist so ungerecht!", klagt T. "Aber du hast es doch auch vier Mal bekommen", sagt der Richter. "Ja, vier Mal nur!", jammert T., den Tränen nahe. "Magst du denn Dinosaurier so gerne?", fragt der Richter. "Nein", sagt T. Der Richter blinzelt etwas verwirrt.

Weihnachten, so ungerecht

"Aber das war doch keine ...", setzt die Mutter an. "Ich habe Ihnen nicht das Wort erteilt!" Der Richter hat seine Autorität wiedergefunden, aber nur kurz.

"Dafür", schmettert nun S., "dafür bekommt T. an Weihnachten immer viel mehr Geschenke als ich. Diese Ungerechtigkeit ausgerechnet an Heiligabend kann ich belegen!" "Tu das", sagt der Richter und reibt sich die Stirn. Er fühlt das erste Pulsieren eines Kopfschmerzes. Auch S. zieht eine Liste hervor. "Sind das Brandflecken?", fragt der Richter. "Die Wunderkerzen, Sie verstehen", sagt S. Der Zettel ist klein, es steht auch nicht viel darauf: T. zwölf Minuten; S. vier Minuten.

"Was bedeuten diese Zeiten?", fragt der Richter. "So lange", sagt S., "haben wir an Weihnachten gebraucht, um unsere Geschenke auszupacken! Nach vier Minuten war ich fertig, kein Geschenk mehr für mich weit und breit. Ich habe sogar hinter dem Sofa nachgesehen, ob dort noch eines für mich versteckt war. Aber nein, nichts! Stellen Sie sich vor, wie ich acht Minuten lang zusehen musste, wie sich T. durch ihren Präsenteberg wühlte. Und sie hat es genossen. Hat sich noch extra viel Zeit gelassen, damit ich auch ja merke, dass sie viel mehr bekommen hat als ich!"

"Von wegen", ruft T. empört, "Nur weil du alle Verpackungen herunterreißt wie ein Irrer und damit die ganze Besinnlichkeit zunichtemachst, warst du so schnell. Überhaupt verhielt sich alles ganz anders: Während ich mich nämlich mit mühsam zu öffnenden Klein- und Kleinstgeschenken begnügen musste, bekam S. genau das Skateboard, das er sich gewünscht hatte. Und wo stand mein Pferd? Nirgends!"

"Aber lassen Sie mich doch erklären ...", sagt die Mutter. "Nein!", rufen S. und T. Der Richter reibt sich die Falte zwischen den Augenbrauen. Der angekündigte Kopfschmerz ist da. Zusätzlich hat er das unangenehme Gefühl, dass ihm diese Verhandlung entgleitet.

"Außerdem", keift T., "darfst du immer viel länger auf Mamas Schoß, wenn sie uns vorliest!" "Und du", schnaubt S., "willst überhaupt nur auf ihren Schoß, wenn ich drauf sitze. Und dann muss jeder auf einem von ihren Beinen sitzen. Total unbequem!" "Ach du", schreit T., "wickelst sie mit deinem Schmusekurs doch nur um den Finger, um mir eins auszuwischen!" "So, und was ist mit deinem aufmerksamkeitsheischenden Dauererzählen?", brüllt S., "Wenn ich mal was sagen will, komme ich ja gar nicht zu Wort!"

Der Richter versucht, den bohrenden Kopfschmerz zu ignorieren und einzuschreiten, doch zu spät. T. und S. haben einen stieren Blick. Sie senken die Köpfe und packen sich an den Armen, an den Beinen, stoßen, kratzen, keifen.

"SCHLUSS, SCHLUSS JETZT. DAS IST MEIN SCHLUSSWORT!", schreit die Mutter. Auch noch als sie aufgewacht ist.

Mit dem Geschwisterkind kommt die Eifersucht - und der Verdacht, Mutter oder Vater könnten die Schwester oder den Bruder bevorzugen. Oft stimmt das auch. Erziehungsberater Joachim Armbrust erklärt im Experten-Interview, warum Eltern das sogar zugeben sollten.

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