Gewalt gegen Kinder:Wenn die Seele immer wieder blutet

Gewalttätige Eltern haben in ihrer Kindheit oft selbst Misshandlungen erfahren. Ein Traumaexperte erläutert, wie die Kette der Gewalt durchbrochen werden kann.

Christine Brinck

Im dritten Stock eines grauen Hauses im Münchner Klinikviertel befindet sich die Psychosomatische Beratungsstelle und Ambulanz des Dr. von Haunerschen Kinderspitals. Der Leiter, Dr. Karl Heinz Brisch, wartet in seinem Büro. Eine Spielecke mit Kasperletheater und Puppen, mit Kindermöbeln und Boxen mit Spielzeugen deutet an, dass in diesem Raum mit Schreibtisch und Computer, rundem Tisch und Sofa nicht nur Gespräche mit Eltern geführt werden. Auch kleine Patienten sollen sich hier heimisch fühlen. Brisch ist Spezialist für traumatisierte Kinder.

Kind auf einer Schaukel

Wer als Kind oft geschlagen wurde, neigt später häufiger als andere dazu, seine eigenen Kinder ebenfalls zu misshandeln.

(Foto: Foto: ddp)

SZ: Es vergeht kaum eine Woche, in dem nicht ein drastischer Fall von Misshandlung, Tötung, Wegsperrung oder Entführung bekannt wird. Dann wird stets von traumatisierten Kindern gesprochen. Was bedeutet Traumatisierung für Kinder und bei Kindern?

Karl Heinz Brisch: Normalerweise hat ein Kind im Alltagsleben eine Bindungsperson, die Schutz und Sicherheit gewährleistet. In der Regel sind dies Mutter oder Vater, vielleicht auch die Großmutter oder eine Tagesmutter. Wann immer das Kind Angst hat oder sich erschreckt, weil zum Beispiel ein großer Hund vorbeiläuft oder weil es von einem Albtraum aufgewacht ist, würde es diese Bindungspersonen aufsuchen, dort erfährt es durch Körperkontakt Schutz und Sicherheit, und das Erregungssystem, was Herzklopfen verursacht, Hormone ausschüttet und Alarm schlägt, würde sich dann ganz rasch wieder beruhigen.

SZ: Und wenn das nicht der Fall ist...

Brisch: Wenn ein Kind allerdings entführt wird, sich absolut hilflos und ohnmächtig fühlt, und niemand da ist, der Schutz, Sicherheit und Beruhigung ermöglicht, gerät es in einen Zustand von größter körperlicher und seelischer Erregung. Die Hormone, die für Stress und Gefahr aktiviert werden, sind über lange Zeit messbar im Blut erhöht.

SZ: Entführungen von Kindern sind eher selten, häufiger sind Misshandlungen.

Brisch: Genau, eine ganz andere, aber häufig vorkommende traumatische Situation entsteht, wenn die Personen, die für den Schutz des Kindes zuständig wären, gleichzeitig diejenigen sind, die Angst machen, bedrohen, schlagen, vergewaltigen oder in irgendeiner Weise dem Kind dauernden Stress verschaffen, weil sie es verwahrlosen lassen und nicht einmal für Essen oder Trinken sorgen oder das Kind einfach viele Stunden in der Wohnung allein lassen, wo es in panischer Angst schreit. Dann kann ein Kind in einen Zustand geraten, wo sich Körper und Psyche überhaupt nicht mehr beruhigen können.

SZ: Wie zeigt sich das?

Brisch: In einer solchen Situation entwickeln Kinder viele verschiedene Symptome, wie etwa ständige Angstzustände und Panikanfälle. Als letzte Überlebensstrategie kommt das Kind klassischerweise schließlich in die Situation, dass der Körper die Wahrnehmung von Gefühlen ganz ,,abschaltet'', um nicht mehr spüren zu müssen, was nicht aushaltbar ist. Wir nennen das ,,Dissoziation'', da stehen die Kinder gewissermaßen neben sich. Oder ein Kind bekommt Albträume, liegt zitternd im Bett und kann vor Angst nicht mehr einschlafen, hat sogenannte Flashbacks.

Wenn die Seele immer wieder blutet

SZ: Flashbacks?

Brisch: Ja, plötzlich einschießende Bilder, von dem, was das Kind als lebensbedrohlich erlebt hat. Solche Bilder oder alten Filme können Kinder oft nicht mehr einfach abstellen, außer durch Dissoziation. Der Preis der Dissoziation besteht darin, dass Kinder schließlich gar keine Gefühle mehr spüren, weder Angst noch Schrecken, noch Freude, Zuwendung oder Trost.

SZ: Wie überleben Körper und Psyche diese dauernde Bedrohung?

Brisch: Ein sicheres Bindungsfundament, das man als Kind emotional verinnerlicht hat, kann einen widerstandsfähiger machen, wenn man durch einen fremden Menschen in eine bedrohliche Extremsituation gerät. Wenn aber etwa die Eltern als potentielle Bindungspersonen selbst von frühester Kindheit an ihr Kind bedrohen und ihm Gewalt antun oder es vernachlässigen, wird es unter diesen Umständen nie eine sichere Bindung als emotionales Fundament mit seinen Eltern aufbauen, zu denen es einerseits Nähe sucht, bei denen es andererseits gleichzeitig panische Angst erlebt.

SZ: Dauert eine Therapie bei Kindern weniger lang als bei Erwachsenen?

Brisch: Ein Kind muss nicht jahrelang im Keller eingesperrt sein, es kann auch sein, dass ein Kind in einer familiären Situation regelmäßig sexuell missbraucht wird und Gewalt erfährt. Dann dauert es auch Jahre später in der Therapie sehr lange, eine junge Frau wieder aus ihren psychischen Zuständen herauszuholen. Das ist therapeutisch sehr schwierig.

SZ: Welche Traumata haben Ihre jungen Patienten erlebt? Und was ist die Altersgruppe?

Brisch: Die Jüngsten sind Säuglinge, die erst wenige Wochen alt sind, die geschüttelt werden, die geschlagen werden, bis hin zu jungen Erwachsenen, die Gewalt in jeder Form erlebt haben.

SZ: Ist Schütteln Missbrauch oder geschieht es aus Unkenntnis heraus?

Brisch: Oft ist es Unkenntnis, oft wissen die Eltern aber auch, dass es nicht sein darf, und sie tun es trotzdem. In der Regel passiert es in Wut und Zorn, einem Affektdurchbruch, wie wir sagen, wenn die Eltern sich selber nicht mehr steuern können. Einen Säugling in einem Anfall von Wut zu schütteln, ist freilich eine andere Situation, als wenn Eltern ihr Kind bewusst quälen, Zigaretten auf ihm ausdrücken, ihr Kind in eine heiße Badewanne stellen.

SZ: Ist das Problem nicht, dass ein so gequältes Kind meist ziemlich spät zu Ihnen kommt? Oder nie, wie etwa der kleine Kevin aus Bremen, wie Nadine, Amani, Jessica, Pascal, Emely, die die Quälerei nicht überlebt haben?

Brisch: Sehr viele dieser Kinder sehen wir überhaupt nie. Aber in der Regel fallen uns diese Kinder auf, wenn sie zur medizinischen Behandlung zu uns gebracht werden, manchmal von den Eltern, manchmal natürlich auch von anderen Personen wie Kindergärtnerinnen. Denen kann es merkwürdig vorkommen, dass ein Kind zum wiederholten Mal montags mit blauen Flecken im Gesicht und am Gesäß in den Kindergarten kommt.

SZ: Oft genug fällt ja leider niemandem etwas auf, und das, auch wenn die Behörden eingeschaltet sind.

Brisch: Leider sehen wir in manchen Wochen gleich mehrfach Kinder mit Verletzungen, im Extremfall etwa mit Knochenbrüchen, Schädelfrakturen, Verbrühungen, die ihnen durch Gewalt von nahestehenden Betreuungspersonen zugefügt wurden. In einer solchen Situation trifft sich die sogenannte ,,Kinderschutzgruppe'', der neben Ärzten verschiedener Fachrichtungen und Kinderkrankenschwestern, Psychologen, Sozialarbeiter, Gerichtsmediziner und Kinder- und Jugendpsychiater angehören. Je nach Situation finden in dieser Zusammensetzung auch Helferkonferenzen mit den Eltern und den Mitarbeitern des Jugendamtes statt.

SZ: Was sagen denn die Eltern in so einem Fall?

Brisch: Die meisten Eltern sind betroffen darüber, was passiert ist, denn sie hatten sich vorgenommen, es mit ihren Kindern besser zu machen und sie nicht so zu schlagen, wie sie es selbst als Kind erlebt haben.

SZ: Und was ist mit denen, die nicht erschüttert sind?

Brisch: Manche Eltern leugnen, etwas mit der offensichtlichen Gewalterfahrung ihres Kindes zu tun zu haben. Oft wird im Gespräch klar, dass die Eltern selbst als Kind in vielfältiger Form Gewalt erfahren haben, also selber traumatisiert sind. Sie berichten von Erlebnissen, die unbewältigt und unverarbeitet sind. Und die eigenen Kinder mit ihren vielfältigen Äußerungen von Weinen, Nähe suchen oder Protest rühren dann an diese unverarbeiteten Erfahrungen der Eltern. Plötzlich springt da eine alte Geschichte auf samt allen heftigen Gefühlen und überrollt die Eltern. Dann kann es passieren, dass sich das Kind in einer Szene wiederfindet, die ursprünglich die seiner Eltern war.

SZ: Fortzeugend Böses...

Brisch: Genau, eine unbehandelte Traumaerfahrung bleibt ein schlummernder Risikofaktor. Kinder erinnern Eltern oft an Situationen, in denen sie selbst in einer ohnmächtigen Lage waren. Das Schreien eines Babys ist ein starker Reiz, den man nicht so schnell abstellen kann. Weil man nicht mehr aushält, was das Baby in einem auslöst, muss es daran gehindert werden zu schreien. Im schlimmsten Fall wird es gepackt, geschüttelt, ihm ein Kissen aufs Gesicht gedrückt, um die eigene Not unter Kontrolle zu bringen. Nicht unbedingt, weil man dem Baby etwas Böses will. Das Baby ist nur der Auslöser, den man beseitigen will.

SZ: Hat denn ein Kind, das so etwas durchgemacht hat, überhaupt eine Chance, es jemals zu bewältigen?

Brisch: Wenn die Psychotherapie das in einer schützenden therapeutischen Beziehung gut aufgreifen kann, dann gelingt es über einen längeren Zeitraum, die Affekte der Lebensbedrohung, der Hilflosigkeit, den Schmerz, die Wut und die Enttäuschung, all diese Gefühle, die mit einem solchen Trauma verbunden sind, vielleicht so gut zu bewältigen, dass der Alltag, wenn neue Reize kommen, nicht zu einer neuen Höllenfahrt werden muss. Was aber bleibt, sind die Verletzungen und die Narben, es wird nicht wieder heile Haut.

Wenn die Seele immer wieder blutet

SZ: Was ist dann der Unterschied zwischen dem behandelten Trauma und dem unbehandelten?

Brisch: Bei guter Verarbeitung blutet es in der Seele nicht immer wieder aufs Neue, wenn man an die alte Erfahrung rührt. Es tut noch weh, aber man wird eben nicht von Affekten geschüttelt, so wie es jemandem ergehen kann, der an ein unverarbeitetes Trauma erinnert wird.

SZ: Sie haben von Flashbacks gesprochen. Wie kann etwa ein kriegstraumatisiertes ruandisches Kind je überwinden, dass es dabei war, als seinem Vater mit der Machete der Kopf abgeschlagen wurde?

Brisch: Solche Kinder sind alle schwerst traumatisiert. Die Bilder unter Kontrolle zu bringen, ist ein erster Teil der Therapie. Es wäre ein Riesengewinn, wenn ein solches Kind nicht Tag und Nacht von diesen Bildern überschwemmt würde. Der erste Teil der Therapie heißt darum immer, Stabilisierung und Kontrolle über die Gefühle und Bilder zu gewinnen.

SZ: Stabilisierung, Schutz, Sicherheit, Ruhe sind Ihre Eckpfeiler, bräuchte man dafür nicht mehr als vier Betten, die Sie auf Ihrer Station haben?

Brisch: Diese vier Betten, die wir am Haunerschen Kinderspital haben, reichen für die vielen Kinder, die wir sehen, überhaupt nicht aus, um ihnen eine spezifische traumapsychotherapeutische Behandlung zukommen zu lassen. Die Dunkelziffer ist riesig groß. Es geht aber auch nicht nur um Kinder, die misshandelt und missbraucht werden. Es geht oft auch um ein Kind, das aus dem Haus geht und einen lebensbedrohlichen Unfall erleidet oder seine Eltern bei einem Verkehrsunfall verliert. Dieses Kind ist ebenfalls traumatisiert, die Geschwister und die Familienangehörigen unter Umständen auch.

SZ: Da sind Sie mit vier Betten ja schnell am Ende.

Brisch: Mit vier Betten kann man nur wenigen Kindern weiterhelfen. Dank der Stiftung Omnibus können wir Kindern nach traumatischen Erlebnissen helfen. Wir behandeln viele dieser traumatisierten Kinder durch unseren psychologischen sowie kinder- und jugendpychiatrischen Konsildienst, das heißt während die Behandlung erfolgt, können die Kinder wegen ihrer körperlichen Symptome stationär untersucht und versorgt werden. Auch durch Behandlungen in unserer Ambulanz können wir traumatisierten Kindern weiterhelfen und verhindern, dass ihre Symptome chronisch werden.

SZ: Gewalt, Unfälle, Tod in der Familie, Scheidung - das heißt doch, dass man viel mehr Personal und Platz für die ambulante wie die stationäre Behandlung von traumatisierten Kindern bräuchte.

Brisch: Mein Traum wäre, dass wir für Bayern quasi modellhaft eine Möglichkeit hätten, viel mehr Kinder stationär in einer wirklich spezialisierten Kinder-Familien-Trauma-Klinik behandeln zu können. Die sollte möglichst in einer Landschaft in Bayern sein, die allein schon wegen ihrer Lage in der Natur zum Stressabbau beiträgt. In einer solchen Fachklinik für Traumapsychotherapie könnte man nach der Erstbehandlung die Kinder und ihre Familien rasch und zügig weiterbehandeln, damit die Traumaerfahrungen sich erst gar nicht psychisch festsetzen.

SZ: Nun gab es ja einst ein solches Kindersanatorium, das Erich Benjamin Haus in Schäftlarn bei München.

Brisch: Es ist bemerkenswert, dass Benjamin, der Professor hier an der Kinderklinik war, vor achtzig Jahren ein eigenes Haus bereitgestellt hat, um damals schon traumatisierte Kinder wegweisend mit modernen Methoden der Psychotherapie und Heilpädagogik zu behandeln. Das war revolutionär für ganz Deutschland. Ein Sponsoren-Ehepaar hat das Haus jetzt gekauft und will es umbauen.

SZ: Warum wäre das Benjamin-Haus so ein guter Platz für Ihre Patienten?

Brisch: So ein Haus wäre geeignet für die allermeisten Kinder, die traumatische Erfahrungen gemacht haben und ihre Familien. Wenn wir unmittelbar stabilisieren und helfen können, die überwältigenden Erlebnisse zu verarbeiten, kommt das Leben für diese Familien und ihre Kinder auch schneller wieder auf den Weg. Wir haben einen riesigen Bedarf, darum bilden wir ja auch in Traumapsychotherapie aus. Aber noch fehlen uns die räumlichen Möglichkeiten. Das soll sich mit dem Benjamin-Haus ändern.

SZ: Wäre das ein Platz für Sonderfälle oder auch für Ihre Alltags-Patienten?

Brisch: So ein Haus wäre geeignet für die allermeisten Kinder, die traumatische Erfahrungen gemacht haben und ihre Familien.

SZ: Was tun Sie sonst für die Prävention?

Brisch: Die Sensibilisierung der Bevölkerung hat offensichtlich zugenommen, es wird genauer hingeschaut. Vordringliches Ziel aber ist, Eltern Behandlung zukommen zu lassen. Eltern das misshandelte Kind wegzunehmen, schützt zwar das Kind, aber dies ist als alleinige Maßnahme nicht ausreichend, weil diese Eltern oft noch ein zweites oder drittes Kind bekommen. Wir haben dieses Problem jetzt in unserem Präventionsprojekt ,,SAFE - Sichere Ausbildung für Eltern'' aufgegriffen, das sich an werdende Eltern ab der 20. Schwangerschaftswoche richtet.

SZ: Wie funktioniert das?

Brisch: Es ist ein Trainingsprogramm zur Förderung einer sicheren Bindung zwischen Eltern und Kind. In Seminaren helfen wir den Eltern sehr früh, über alle Fragen und Probleme, die mit einem Kind auf sie einstürmen, Kenntnisse zu sammeln und eigene schmerzliche Kindheitserlebnisse schon in der Schwangerschaft und nach der Geburt zu verarbeiten, bevor sie diese an ihre Kinder weitergeben.

SZ: Und ist das Kind auf der Welt, wird dann alles gut?

Brisch: Wir bieten weitere Seminare für die Eltern während des ganzen ersten Lebensjahrs an und haben auch eine Hotline, unentgeltliche Einzelgespräche und Kleingruppenarbeit mit der Möglichkeit, dass die Eltern auch an Videoaufnahmen von sich und ihrem Kind lernen können. Unsere bisherigen Erfahrungen mit Eltern in SAFE-Gruppen zeigen, dass so - nicht nur theoretisch - tatsächlich die Teufelskreise der Wiederholung von Gewalterfahrungen über Generationen unterbrochen werden können.

Dr. Karl Heinz Brisch, Jahrgang 1955, ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Er leitet die Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie im Dr. von Haunerschen Kinderspital der LMU München. Brisch, Vater dreier Kinder, ist deutscher Vorsitzender der Gesellschaft für Gesundheit in der Frühen Kindheit (GAIMH) und Autor des in viele Sprachen übersetzten Bestsellers ,,Bindungsstörungen. Von der Theorie zur Therapie'' (Klett-Cotta).

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