Gefährliche Medikamententests:Lehren aus London

Vor einem Jahr rangen sechs junge Männer in eine Londoner Klinik nach einem Medikamententest mit dem Tod. Keiner von ihnen wird sich jemals vollständig erholen. Nun sollen schärfere Richtlinien die Risiken von Arzneitests eindämmen.

Christina Berndt

Im Gegensatz zu den sechs Männern hatten die beiden anderen Probanden nur Plazebo-Lösung bekommen. Keiner der sechs wird sich je vollständig von den Folgen des Tests mit dem Wirkstoff TGN1412 erholen.

Tegenero, Medikamententest

Die Medikamententests fanden im Northwick Park Hospital in London statt.

(Foto: Foto: dpa)

Die Arznei, die der deutsche Hersteller Tegenero entwickelte, war einst ein Hoffnungsträger: Sie sollte Menschen mit Rheuma, einer Leukämieform und auch mit Multipler Sklerose helfen. Zugleich gehört TGN1412 zu einer besonders viel versprechenden Klasse von Medikamenten, den so genannten monoklonalen Antikörpern.

Knapp 20 dieser potenten Substanzen, die dem menschlichen Immunsystem abgeguckt sind, haben zuletzt den Arzneimittelmarkt im Sturm erobert, sagt Ulrich Kalinke vom Paul-Ehrlich-Institut in Langen.

300 bis 500 weitere Antikörper, schätzt der Immunologe, werden weltweit auf die Zulassung vorbereitet. Diese ,,Waffen des Immunsystems'' sollen gegen Krebs und Autoimmunerkrankungen wie Rheuma oder entzündliche Darmerkrankungen wirken, kurz: gegen einige Volkskrankheiten.

Wie aber sollen es diese Arzneien je zur Zulassung schaffen, wenn ihre Wirkung im Menschen so unberechenbar zu sein scheint? Wie werden nach den Erfahrungen des Tegenero-Tests je wieder die nötigen Studien mit Menschen möglich sein?

Sturm im Körper

Mit diesen Fragen beschäftigte sich kürzlich, ein Jahr nach dem unglückseligen Test, ein wissenschaftliches Symposium am Paul-Ehrlich-Institut - jener Behörde, die einen ganz ähnlichen Versuch mit TGN1412 wie den von London auch für Deutschland genehmigt hatte. Nur weil das Institut drei Wochen langsamer war als sein britisches Pendant, blieb Deutschland das Desaster erspart.

Fest steht inzwischen: Tegenero hat sich nichts zuschulden kommen lassen. In einem mehr als 900 Seiten langen Report vom November 2006 ist eine international besetzte Kommission im Auftrag der britischen Aufsichtsbehörde zu dem Schluss gekommen, dass die Ereignisse unvorhersehbar waren und der Test ordnungsgemäß vorbereitet.

Auch Ulrich Kalinke betont: ,,Die Firma hat gute Arbeit geleistet.'' Wer nach dem Desaster behauptet habe, die Gefahr sei abzusehen gewesen, mache es sich zu einfach.

Tegenero hatte TGN1412 , wie es sich bei neuartigen Medikamenten gehört, langen Versuchsreihen unterzogen, bevor das Fiasko von London seinen Lauf nahm: Die Substanz war in der Zellkultur, an Nagetieren und schließlich an Affen getestet worden. Nichts deutete auf die Gefahr hin. Und doch lief das Immunsystem der jungen Männer in kürzester Zeit Amok, obwohl sie nur eine winzige Dosis bekommen hatten: Ein ,,Zytokinsturm'' wurde in ihrem Körper entfacht, der zahlreiche innere Organe lahm legte.

Lehren aus London

,,Die Expertengruppe hat alle Schlüsselversuche von Tegenero wiederholt'', sagt Thomas Hünig. Auf die Idee Hünigs gehen TGN1412 und auch die Biotechfirma Tegenero zurück, in deren Aufsichtsrat der Würzburger Immunologie-Professor bis zu ihrem Konkurs im Juli 2006 saß.

,,Es ist einerseits befriedigend, dass keinerlei Diskrepanzen zu den Ergebnissen von Tegenero auftraten'', sagt er, ,,andererseits ist es beunruhigend, dass die Tierversuche für das Geschehen im Menschen nicht aussagekräftig waren.''

Ulrich Kalinke ist dennoch davon überzeugt, dass sich ähnliche Katastrophen in Zukunft vermeiden lassen - und es somit auch neue Medikamente geben wird. Am Paul-Ehrlich-Institut wurde eigens ein neuer Fahrplan für so genannte Hochrisikoprodukte entwickelt, zu denen auch verschiedene Antikörper gehören.

Demnach soll die Dosis, die Probanden in einem ersten Versuch erhalten, künftig so klein sein, dass im Reagenzglas gerade noch ein biologischer Effekt zu erkennen ist. ,,Mabel-Strategie'' nennen Wissenschaftler das, ein Kürzel für ,,Minimal angenommenen biologischen Effekt''. Sie ist auch Teil des Entwurfs zur Verschärfung der Sicherheitsbestimmungen bei Medikamentenstudien am Menschen, den die europäische Arzneimittelbehörde Emea nun vorgelegt hat.

Außerdem ist vorgesehen, dass höhere Dosen künftig nur noch in kleineren Schritten erreicht werden, sagt Ulrich Kalinke. Dabei blickt er auf ein Antikörpermedikament namens Tysabri. Die Arznei war ein Hoffnungsträger gegen Multiple Sklerose, bevor sie kurz vor dem TGN1412-Fiasko überraschend und nach tausenden Tests am Menschen drei Versuchspersonen das Leben kostete. Inzwischen hat die Wissenschaft einen Weg gefunden, wie sie Tysabri unter verschärften Bedingungen doch noch anwenden kann und somit ,,eine neue Perspektive für Patienten mit weit fortgeschrittener Multipler Sklerose eröffnet'', sagt Kalinke.

Ob es eines Tages sogar TGN1412 noch in die Klinik schafft? Thomas Hünig ist erleichtert, dass Tegenero wenigstens keine Fahrlässigkeit nachgewiesen wurde, nicht einmal Unmoral. In der aktuellen Ausgabe des American Journal of Bioethics setzen sich zwei Bioethiker von den amerikanischen National Institutes of Health mit dem TGN1412-Unfall auseinander. Auch sie ziehen ein versöhnliches Fazit: ,,Schlechte Dinge passieren auch bei ethisch einwandfreier Forschung.''

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