Gedenk-Tourismus:Alles in Luther

In Thüringen und Sachsen-Anhalt sind die Festspiele zum Reformationsjahr schon jetzt in vollem Gang. Dem Urheber der Jubelorgie entkommt so schnell keiner. Ein Besuch auf der Wartburg.

Von Cornelius Pollmer

Am Ende dieses Sommers wird man sich selbst einliefern, in die Notaufnahme auf der Wartburg. Man wird bei der Hotelbuchung zuvor in der Extrawurst-Zeile des Online-Formulars um Zuweisung des "lutherischsten aller Lutherzimmer" bitten und erst dann auf bestätigen klicken. Man wird sodann allein im "Romantikhotel auf der Wartburg" einchecken und diesen Ort als das begreifen, was er im Notfall auch sein kann: ein 5-Sterne-Sanatorium, vor dessen Fenstern der Thüringer Wald in der Abendsonne einen expliziten Naturporno aufführt. Sanfte Wogen, sattgrünes Kleid, unendliche Schönheit. Man wird in der Sehnsucht nach dieser Schönheit die Fenster aufreißen und sogleich vor der Wahl stehen, ob man sich dem Wahnsinn nun vollends ergibt - oder ihn ein letztes Mal zu besiegen versucht.

Der Wahnsinn, das ist das Reformationsjubiläum im nächsten Jahr. 2017 soll ein einziger Festakt werden, 500 Jahre Reformation und Thesenanschlag, olympische Lutherspiele in allen möglichen Disziplinen. Die Motivlage für die Feierlichkeiten ist plausibel, aber die Planungen wuchern schon jetzt. Besonders in Sachsen-Anhalt und Thüringen kartografieren Werbetreibende noch den letzten Ort, in dem Luther bei der Durchfahrt vielleicht mal zum Pinkeln gehalten haben könnte. Überall wird man zugeluthert, und die Touristiker der Ost-Länder jubeln: endlich mal ein Anschlag, der sich vermarkten lässt!

Die Wartburg ist das assoziative Epizentrum dieses Wahnsinns, und wer sich an einem Sommerwochenende auf geschwungenen Straßen an sie heranwindet, der wird zunächst überrascht von der massiven Gegenwärtigkeit des Interesses an Mensch und Monument. In der Parkschleife warten Busse aus Italien, Polen, den Niederlanden. Die Kennzeichen der Pkws reichen von Aachen bis Zittau, Deutschland einig Lutherland, und das liegt nicht nur an der Nähe der Burg zur West-Ost-Autobahn 4. Es liegt vor allem an der Wartburg und dem kaum schlagbaren touristischen Paket, das sie darstellt. Die paar Stufen nach oben sind gut zu bewältigen, geben einem aber das Gefühl, sich den Ausblick verdient zu haben. Für Kinder gibt es Eselreiten, eine Druckpresse und eben eine echte Burg im Maßstab 1:1. Für alle gibt es die Möglichkeit, dem bekannten Namen Luther ein paar Bilder hinzuzufügen: Wie könnte das Leben damals ausgesehen haben, im 16. Jahrhundert? Es kommen hierher jene, deren historisches Interesse für etwas mehr reicht als ein Met-Besäufnis auf dem Mittelaltermarkt.

"Wer mit Luther beginnt, der kann eigentlich nicht aufhören damit", hat der Nietzsche-, Wagner- und nun auch noch Luther-Biograf Joachim Köhler gerade gesagt, und in diesem Satz steckt sowohl die Faszination, die mit dem unerschöpflichen Luther verbunden wird, als auch die Probleme, die daraus folgen. Die Besucher auf der Wartburg fasziniert Luther, weil die Vergegenwärtigung seines Muts und seiner Unbeirrbarkeit noch heroischer wirken, betrachtet man sie auf der Folie eigener Lebenskompromisse. Die evangelische Kirche sieht in Luther ihren Markenkern und ihr Erbe und sie sieht mit einigem Recht im Reformationsjubiläum eine Chance, dieses Erbe zu vermarkten.

Schwierig bis komisch wird es, wenn das Marketing sein Maß verliert. Wenn neben der Kirche auch noch Firmen, Agenturen und der Staat sich mit touristischem Kalkül um Stücke vom Lutherkuchen bemühen. Und wenn hinter tausend Formen und Oberflächen aus dem Blick fällt, woran eigentlich erinnert werden soll.

Zu dieser Erkenntnis hätte man bereits 2013 kommen können, als von einer holländischen Familie zu lesen war, die mit dem Anbau von - markenrechtlich geschützten - "Luther-Tomaten" begann. Nur Monate später ging der Staat ins Rennen, mit der Inbetriebnahme des touristischen Programms "Luther war hier". Aufgelegt wurde eine Art Nothilfe für "weniger bekannte Orte, die in einer Beziehung zu Luther stehen oder stehen sollen". Der Beschreibung zufolge richtete sich das Projekt an "alle authentischen. . . aber auch die fragwürdigen, fiktiven und mythischen Lutherorte". Nach dieser Definition hätten auch Melmac und Walhalla eine Förderung beantragen können, wäre das Angebot nicht auf Sachsen-Anhalt begrenzt gewesen.

Die Dinge beruhigten sich noch einmal mit der Eröffnung von Luthers Elternhaus in Mansfeld, Juni 2014. Neben dem Lutherhaus in Wittenberg und dem Geburts- sowie Sterbehaus in Eisleben gab es nun eben noch ein Museum, das sich auf Luthers Kindheit fokussierte. In Summe: ein gerade noch erträgliches Triptychon des Gedenkens. Nach dessen Fertigstellung aber war nicht etwa Ruhe, nun ging es erst so richtig los. Es luthert seitdem mit immer höherer Geschwindigkeit, und dass die Systeme in diesem Jahr erst so richtig heiß laufen würden, das war im Januar zu erfahren, beim Neujahrsempfang im Magdeburger Palais am Fürstenwall.

Playmobil Sonderfigur Martin Luther zum 500 Jahrestag der Reformation im Jahr 2017 Figur in der Lu

Das eigentliche Reformations-Gedenkjahr ist ja 2017, doch schon jetzt gibt es eine wahre Flut von Luther-Produkten (hier das Playmobil-Männchen) und -Aktionen.

(Foto: imago/Stefan Noebel-Heise)

Reformator auf Rekordkurs: Der Playmobil-Luther hat sich bereits 400000 Mal verkauft

Ministerpräsident Reiner Haseloff hatte geladen, der vertraute Empfangsadel und die Häppchenjäger waren gern gekommen. Haseloff, dessen Vorfahren Luther persönlich gekannt haben, baute sich vor der Abendgesellschaft auf und hielt eine Rede. 2016, sagte er, gebe es leider nicht so viele Jubiläen. Aber danach komme 2017 und damit das Lutherjahr, und schon jetzt müsse und sollte man, dürfe man aber auch, denn es könnte ja. Das eben erst beginnende Jahr? Eine Opfergabe, gerade gut genug als Countdown für die großen Lutherfestspiele im Jahr darauf.

In Wahrheit wird das Jubiläum schon totbegangen, bevor es überhaupt begonnen hat. Zum Beleg eine kleine Auswahl, eingesammelt mit wirklich mäßiger Akribie in den vergangenen Monaten: Es gibt das Jugendprojekt "DenkWege zu Luther", die Regionalzeitung vermeldet Verkaufsrekorde beim Playmobil-Luther (mehr als 400 000 Stück), und vielleicht ist für einen solchen ja noch Platz im "Luther-Koffer", den Schulklassen zahlreich erproben. Im Februar freute sich der damalige Kultusminister Sachsen-Anhalts über den Comic der "Abrafaxe auf den Spuren Luthers", er freute sich über "eine neue Zielgruppe", und damit wirklich niemand ungeluthert bleiben muss, gibt es für Ältere den Historiencomic "Zu Tisch bei Luthers in Wittenberg". Wenn es auf den Lauf- und Lutherwegen in der Heimat einmal eng wird, macht man es wie Bodo Ramelow und weicht aus auf das Ausland. Im Juni fliegt Thüringens Ministerpräsident also nach Stockholm, Motto seines Besuchs: "Martin Luther meets Gustav Wasa". Kurz darauf fährt Sachsen-Anhalt aber einen Konter, das vierte bundesweite "Lutherschultreffen in der Lutherstadt Wittenberg" ereignet sich parallel zur mit Gastgeberstolz begleiteten Tagung des Lutherischen Weltbundes. Wem es da langsam zu viel wird, dem wird natürlich auch ein Angebot gemacht, nämlich im Sterbehaus Luthers in Eisleben. "Luthers letzte Reise" heißt ein vor zwei Jahren eingeweihter Wandteppich, in welchem der ernsthafte Versuch zu erkennen ist, auch dem Tod des Reformators neues Leben einzuhauchen.

Wer bündelt jetzt all diese Angebote? In Thüringen macht das eine Luther-Geschäftsstelle

Wozu führt dieses Überangebot? Nun, es führt zu noch mehr Angeboten. In Thüringen gibt der Staat 350 000 Euro für eine Geschäftsstelle, die zwei Aufgaben hat. Erstens: dafür sorgen, dass trotz der vielen Luther-Aktionen niemand den Überblick verliert. Zweitens: die Produktion von "Broschüren, Präsentationen, Imagefilm", worin Fachabteilung eins sowohl Legitimation als auch Bürde erkennen mag. Nicht ganz klar ist, in welchem Verhältnis die Geschäftsstelle zum "Lutherinformationszentrum" in Mühlhausen steht, gefördert vom Land mit knapp 200 000 Euro. Der zuständige Staatssekretär Maier begründete die Zuwendung seines Hauses mit Transparenz und argumentativer Kraft gleichermaßen: "Auch wenn Luther selbst nie in Mühlhausen war, spielt die Stadt . . . eine zentrale Rolle im Lutherjahr". Denkbar wäre jetzt noch eine übergeordnete Geschäftsstelle, die die Aktivitäten aller Geschäftsstellen koordiniert und nicht minder kraftvoll bündelt. Denkbare wäre auch ein Gedenk-Quartett, bei dem alle Geschäftsstellen, Gedenkorte und Museen in Kategorien wie Mitarbeiterzahl und Büroquadratmeter gegeneinander antreten.

Realität hingegen ist, dass selbst auf dieser Metaebene mit Luther längst zu rechnen ist. Die App Luther to go ist seit Juli verfügbar, sie verzeichnet 1010 Kilometer Wege, mehr als 400 Attraktionen und Unterkünfte, 20 "bedeutende Lutherstätten", 180 Kirchen, und so weiter und so fort. Die Chefin der Tourismus GmbH sagte zum App-Start, man habe "viel Kraft in hochwertigen Content" investiert. "Luther als Content", das ergäbe natürlich auch schon wieder eine fantastische Ausstellung.

Bis dahin aber, wie gesagt, allerhand Luther to go, nicht zu verwechseln mit dem "Luther-Trip", auf den die Landesvereinigung für kulturelle Kinder- und Jugendbildung Sachsen-Anhalt Kinder und junge Erwachsene zu schicken gedenkt und der mit dem Lutherweg nur bedingt etwas zu tun hat. Thüringen wiederum fügt der eigenen App noch ein erstaunliches Offline-Angebot hinzu: Menschliche "Lutherfinder" sollen Touristen Orientierung geben, die sich auf Safari begeben wollen. Und wenn man nett fragt, helfen die Lutherfinder bestimmt auch bei Schwierigkeiten mit der Luther-App. Oder man besinnt sich eben gleich auf die wesentlichen Orte, um den Überblick nicht zu verlieren - und damit zurück nach Eisenach, auf die Wartburg.

Was die Dreiviertelhosenträger in der Wartburg entdecken, das blitzen sie sofort nieder

Dass diese zu den zentralen Orten deutscher Geschichte gehört, ist bekannt, die Details ruft man sich dann ab und an mal in Erinnerung: Friedrich der Weise (wohlwollend) ließ Luther (geächtet) auf dessen Rückreise von Worms entführen, um ihn vor Kirche und Kaiser (wütend) zu schützen. Auf der Wartburg fand Luther Schutz, einen Decknamen (Junker Jörg) und zwangsläufig Zeit, das Neue Testament in verständliches Deutsch zu übersetzen.

Eisenach - Vorbereitung Refomationsjubiläum 2017

Touristen in der Luther-Stube auf der Wartburg, wo der Reformator die Bibel übersetzte.

(Foto: picture alliance / zb)

Dass die Wartburg auch ein zentraler Ort deutscher Gegenwart ist, zumindest was den Erinnerungstourismus betrifft, erschließt sich einem sofort beim Besuch. Während im Gemäuer die Sonderausstellung "Luther und die deutsche Sprache" zu besichtigen ist, haben zwei Freundinnen das verwitterte Umkleideholz auf dem Südturm geritzt: "Isa + Anna = BFF". Während in der Besuchergruppe Dreiviertelhosenträger mit Kompaktkameras das Mosaik in der Elisabethkemenate kaputtblitzen, runzeln Lehrer-Ehepaare neben ihnen die Stirn. Während die Lehrer in dieser Besuchsgruppe dem Lager der sportlichen Kulturstreber zugeordnet werden dürfen, sieht man auch, was es noch heißt, wenn in den Nachrichten mal wieder von einer anziehenden Binnenkonjunktur die Rede ist: Camp-David-Verirrte mit griffbereitem West-Bigpack, Nordic-Walker mit ihren Alu-Speeren und noch Hunderte Kameras mehr, deren Schlaufen sich wie Fesseln um Handgelenke schnüren. In der Gruppe schließlich ergibt man sich irgendwann dem Schleuserprinzip des Führers, der mit einem Ohr oft schon im nächsten Raum ist, in der Hoffnung, die vorangehende Gruppe möge diesen zügig freigeben - von hinten blitzen ja schon die nächsten heran, nicht selten kommt es zum Stau.

Das Beruhigende an diesem Pilgerort ist, dass seine Schönheit und die seiner Umgebung unvermindert bleibt, selbst im größten Andrang - die Wartburg strahlt eine schlichte Beständigkeit aus, die beruhigend wirkt. Das Bemerkenswerte an diesem Pilgerort ist auch, dass er die große Verpuffung des Jubiläums im Grunde vorwegnimmt. Vor der Führung murmelt von hier und da die Vorfreude heran, ja, besonders freue man sich auf den Tintenfleck, den Luther im Anblick des Teufels an der Wand zurückgelassen haben soll. Und dann? Lassen die Leute die Schultern sacken, wenn sie nach einer Stunde über die Schwelle der Lutherstube knarzen. Kein Tintenfleck zu sehen, nirgends.

Im Romantikhotel findet man endlich Ruhe von der ganzen Lutherei. Im Spa-Versteck

Also geht man weiter, noch einmal in aller Ruhe in die Ausstellung, und dort wartet dann der ultimative Aha-Effekt. "Die Reformation als Medienereignis" steht über einer Tafel, es ist darauf von einer "publizistischen Auseinandersetzung" die Rede, "deren Ausmaß zu diesem Zeitpunkt beispiellos war", und es ist auch die Rede von "hunderttausendfach verbreiteten Flugschriften". Ja, genau, möchte man denken, endlich ein selbstkritischer Blick aufs eigene Jubiläum, aber die Tafel behandelt eben die Reformation selbst, nicht ihr Jubiläum 500 Jahre später.

Erinnerungskultur und Erinnerungstouristik, das sind zwei verschiedene Paar drückender Schuhe. Was die Touristik angeht, muss man sich um die Wartburg nicht groß sorgen. Die Leute kommen in großen Stückzahlen, sie sind bester Laune, und sie machen normalinteressiert eine Führung, bevor es zu Kaffee und Kuchen am Panoramafenster geht. Was die Kultur betrifft, zieht man sich doch besser zurück, etwa ins Romantikhotel, Luther-Zimmer 219, und dann liest man halt.

So kann der Tag verfliegen und an seinem Ende geht man hinab in den Keller, dort gibt es Sauna und allerlei Wässerchen zur Ertüchtigung. Draußen schieben sich noch die Dreiviertelhosenträger vorbei an den Motorradfahrern im schwarzen Yamaha-SM-Leder. Draußen, im Land, wird bestimmt gerade wieder irgendwo eine Ausstellung eröffnet, ein Teppich enthüllt, eine App hochgeladen. Und im Hotelkeller, beim Luther-Detox im "Vitalbereich Jungbrunnen", gibt es dafür eine schöne Gewissheit. Hier unten, im Spa-Versteck, werden einen die Lutherfinder garantiert nicht aufspüren.

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