Expertentipps zur Erziehung:"Bewegung macht Kinder schlauer"

Kinder wollen laufen, rennen, toben - und machen es immer weniger. Dabei ist Sport nicht nur für die Gesundheit gut. Warum Kinder heute immer länger sitzen und was Eltern dagegen unternehmen können, erklärt Sportwissenschaftlerin Christine Graf.

Katja Schnitzler

gel Erziehung Tipp Experten Expertentipp Kind Turnen Kinderturnen

Kinder haben nicht nur Spaß am Toben, sie brauchen auch Bewegung, um gesund zu bleiben - und schlauer macht Sport auch noch.

(Foto: Daniel Hofer)

Dicke, kurzatmige Kinder schauen zu, wie Zeichentrickfiguren im Fernsehen Purzelbäume schlagen, statt selbst durch die Gegend zu toben. Jugendliche hängen mehr vor dem Computer herum, statt nach Schule und Hausaufgaben endlich nicht mehr still sitzen zu müssen. Diese Probleme haben nicht nur Familien in den USA oder Großbritannien, auch in Deutschland wird die Gesellschaft immer inaktiver. Professorin Christine Graf von der Deutschen Sporthochschule in Köln erklärt, warum Kinder nicht mehr ausreichend toben und was Eltern deshalb ändern sollten.

Süddeutsche.de: Sind die Eltern schuld, wenn sich Kinder nicht genug bewegen?

Christine Graf: Von Schuld kann und sollte man hier nicht sprechen, denn Eltern machen sich oft Vorwürfe, wenn ihr Kind zu viel an Gewicht hat und sich dann auch noch wenig bewegt. Aber sie tragen natürlich als Vorbilder eine große Verantwortung. Eltern, die sich selbst viel bewegen, sorgen auch für viel Aktivität ihrer Kinder. Wenn allerdings Vater und Mutter ganztags arbeiten, bleibt wenig Zeit und Kraft, einen gesunden Alltag vorzuleben. Zudem muss man bedenken, dass der Lebensstil von Kindern und Jugendlichen heute ein anderer ist: Sie treffen Freunde auch auf Facebook und nicht nur draußen. Und es ist eine gesellschaftliche Entwicklung, dass die Menschen mehr sitzende Tätigkeiten als früher ausüben.

Also müssten eigentlich alle mehr Sport treiben, weil die körperliche Arbeit weggefallen ist?

Ja, denn wir entwickeln uns zu einer Chill-Gesellschaft. Schließlich sind wir genetisch auf faul sein geprägt, weil das Energien fürs Überleben spart. Früher gab es wenig Nahrung und für die musste man meistens weite Wege und Gefahren auf sich nehmen. Das brauchen wir aber heute nicht mehr. Also müssen wir unsere genetische Programmierung austricksen und ein Bewusstsein dafür schaffen, dass ausreichende Bewegung unser Herz und Hirn schützt und fit hält, entspannt, das Immunsystem stärkt und Aufmerksamkeitsdefizite vermeiden hilft. Und sie macht sogar schlauer, wie Studien ergeben haben.

Das wissen die meisten Eltern und achten dennoch nicht darauf, dass die Kinder aktiv werden - geschweige denn sie selbst. Warum ignorieren sie diese Vorteile?

Unser modernes Leben ist ja sehr schnell getaktet, viele Eltern sind nach der Arbeit einfach zu müde. Und auch Schulformen wie das G8 fordern Jugendliche sehr stark, da ist der Drang groß, nach der Schule durchzuhängen und die Freizeit nicht mehr aktiv zu gestalten. Wenn dann noch das Vorbild durch die Eltern fehlt, wird es schwierig. Eine Mutter, die raucht und zu den Kindern sagt, "fangt bloß nicht damit an", ist auch nicht besonders überzeugend.

Schule, Hausaufgaben, Lernen: Haben Kinder und Jugendliche heute vielleicht keine Zeit mehr zum Toben und für den Sport?

Generell muss man sagen, sie haben ja auch Zeit zum Fernsehen und für den Computer, da wäre also genug Luft für Bewegung. Aber die Verführung ist sehr groß. In den 80er Jahren gab es bei weitem noch nicht so viele TV-Programme, nicht die Vielzahl an PC-Spielen und die Möglichkeiten im Internet. Auch die Zahl der Autos ist um ein Vielfaches höher und mit ihr wächst die Bequemlichkeit. Durch all diese Entwicklungen haben normale Alltagsaktivitäten massiv abgenommen. Da müssten Eltern Regeln aufstellen und die auch konsequent durchsetzen. Aber viele tun sich schwer damit, wollen lieber die Freunde ihrer Kinder sein, statt sie stärker anzuleiten. Auch das hat sich verändert. Doch nicht nur Eltern müssen für mehr Bewegung sorgen, auch die Politik. Da ist das Interesse allerdings nicht sonderlich groß, denn leider wird man wegen Programmen für einen besseren Schulsport nicht gewählt.

Schaffen Kinderturnen und Vereine den Ausgleich?

Welche Auswirkungen hat es auf Kinder, wenn sie fast rund um die Uhr entweder sitzen oder liegen?

Körperliche Folgen wie zum Beispiel Übergewicht sind bekannt. Noch kann man aber nicht einschätzen, wie sich dieser Wandel langfristig auf die Gehirnentwicklung der Kinder auswirkt. Vor den Bildschirmen sind sie sehr einseitigen Reizen ausgesetzt, hauptsächlich visuellen. Wenn sie aber nach draußen gehen, erhalten sie eine Vielzahl an stimulierenden Eindrücken: Klettern sie auf einen Baum, müssen sie greifen, sich hochziehen, die Bewegungsabläufe planen und fühlen die Rinde. Spielen sie mit anderen, kommt noch soziales Lernen hinzu, das Emotionale und Zwischenmenschliche. Und ihr Selbstbewusstsein wird auch gestärkt.

Was müssen Eltern ändern, damit ihre Kinder aktiver werden?

Sie können viel dafür tun, sogar schon während der Schwangerschaft: Mütter die sich gesund ernähren und bewegen, prägen die kindlichen Gehirne ihrer Kinder mit. Später sollten Eltern bewusst möglichst viele Aktivitäten im Alltag unterbringen: Welche Strecke muss wirklich mit Auto, U-Bahn oder Bus gefahren werden? Kann das Kind den Schulweg zu Fuß, mit dem Roller oder Rad zurücklegen? Da braucht man den Mut, zu sagen, es schadet nichts, mit der richtigen Kleidung auch bei Regen ohne Auto zum Unterricht zu kommen. Dieser Standpunkt vermittelt eine bewusste Wertschätzung der Bewegung und den Kindern Selbstvertrauen, weil sie ihren Schulweg selbständig bewältigen.

Aber viele sind in Großstädten zum Beispiel auf die U-Bahn angewiesen ...

Auch hier könnten sie eine Station zu Fuß gehen oder radeln, und die Eltern könnten auf ausreichend Ausgleich achten. Schließlich sollten sich Kinder ein bis zwei Stunden am Tag bewegen, da ist mit dem Schulweg oft schon viel abgedeckt.

Was bringen wöchentliche Angebote wie Kinderturnen oder der Sportverein?

Sie fördern das soziale Miteinander und bewirken eine positive Einstellung zur Bewegung: Sie sind somit eine gute Grundlage, um Aktivitäten weiterzuentwickeln. Wer den Nachwuchs erst im Jugendalter motivieren will, ist zu spät dran. Was Hänschen nicht lernt, fällt Hans doch sehr schwer. Die Freude an der Bewegung muss früher geweckt werden. Einen Beitrag dazu kann das Kinderturnen leisten, hier wird mit Koordinationstraining die Basis für jede Sportart gelegt. Allerdings darf man diese wöchentliche Stunde nicht als Alibi benutzen, ansonsten faul zu sein. Da muss man sich überwinden. Ich selbst hatte auch eine 5 im Schulsport. Aber meine Mitbewohnerin, eine Sportstudentin, hat mich motiviert. Heute achte ich darauf, Sitzenbleib-Fallen wie den Fernseher bewusst zu vermeiden oder wenigstens zu begrenzen.

Schulsport kann ja unsportlicheren Kindern die Freude an der Bewegung sogar eher verleiden ...

Dann liegt es wieder an den Eltern, die Kinder zu begeistern. Aus eigener Erfahrung wissen wir ja, mit dem Sonntagsspaziergang klappt das eher nicht. Aber sie könnten ja mit dem Nachwuchs klettern oder in den Bergen wandern. Das tut der ganzen Familie gut.

Prof. Dr. Dr. Christine Graf hat sich von ihrer Abneigung gegen den Schulsport nicht prägen lassen und sorgt heute selbst in einem Projekt der Sporthochschule Köln dafür, Kindern die Freude an der Bewegung zu vermitteln - auch im Unterricht (Children's Health Interventional Trial). Sie ist außerdem Ko-Autorin der Bücher "Bewegungsmangel und Fehlernährung im Kindes- und Jugendalter - Folgen und Therapiemöglichkeiten" sowie "Ball und Birne: Ein ganzheitliches Konzept zur Gesundheits- und Bewegungsförderung im Vorschulalter".

Kinder, die zu dick sind, nicht rückwärts gehen können und keine Lust auf Bewegung haben. Da sollten wir was unternehmen, sinnieren die Eltern, während sie ihr Kind in die Schule fahren. Die Erziehungs-Kolumne

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: