Der Wunsch, 100 zu werden:"Der Körper ist keine Maschine"

Wir wollen 100 werden - und nichts dafür tun. Ein neuer Ratgeber provoziert: "Wer gesund stirbt, hat mehr vom Leben."

Mirja Kuckuk

Siegfried Meryn ist Facharzt für Innere Medizin und Österreichs wohl bekanntester TV-Doktor. Gemeinsam mit dem Journalisten Christian Skalnik hat er den Ratgeber "Wer gesund stirbt, hat mehr vom Leben" herausgebracht. Die Autoren räumen mit hartnäckigen Gesundheitsmythen auf und sprechen unangenehme Wahrheiten aus.

senioren am strand

Silver Surfers oder Senioren-Schwimmer: Manche Alte haben bereits begriffen, dass es nie zu spät ist, etwas für sich zu tun.

(Foto: Foto: iStockphotos)

sueddeutsche.de: Herr Meryn, wie alt wollen Sie werden?

Siegfried Meryn: Gesund möchte ich am liebsten 120 Jahre alt werden. Mal sehen, ob ich das schaffe. Ich lebe jedenfalls gesund, genieße das Leben und habe Spaß daran, alt zu werden.

sueddeutsche.de: Ihr Buch trägt den Titel "Wer gesund stirbt, hat mehr vom Leben". An wen richtet sich Ihr Buch? Wollen wir nicht alle gesund bleiben?

Meryn: Wir wollen mit dem Buch Menschen ansprechen, die sich von falschen Versprechungen verführen lassen. In Deutschland, Österreich und den USA geben die Leute mittlerweile genauso viel Geld für Gesundheitsprodukte aus wie für Medikamente - und das aus eigener Tasche. Man verspricht ihnen Tabletten, die vor Krebs schützen und gleichzeitig den Zucker senken, oder Knoblauchpillen gegen Rheuma. In den letzten zwei Jahren haben wir die Medizinliteratur daraufhin untersucht, was wirklich wahr und was Mythos ist.

sueddeutsche.de: Dennoch klingt der Titel zynisch. Was etwa sagen Sie Menschen mit chronischen Krankheiten - Rheuma oder Diabetes?

Meryn: Natürlich soll der Titel auch provozieren. Von Schopenhauer stammt das Zitat: "Das Schicksal mischt die Karten, aber wir spielen damit". Sagen wir, die Karten sind die Gene. Natürlich hat dann ein Jugendlicher mit Diabetes Typ 1 vom Schicksal schlecht gemischte Karten bekommen. Das heißt aber nicht, dass das Leben vorbei ist.

sueddeutsche.de: Was folgt daraus?

Meryn: Es geht darum, wie er damit umgeht: Achtet er auf seinen Körper, nimmt er seine Medikamente, geht er zu den Kontrollen? Das gilt aber genauso für die Gesunden unter uns: Hartnäckige Mythen sind zum Beispiel, dass wir nichts gegen den ungesunden Lebensstil in unserer Gesellschaft tun können oder dass man mit 50 oder 60 gar nicht mehr anzufangen braucht, seine Gesundheit zu pflegen.

sueddeutsche.de: Wie entstehen solche Mythen?

Meryn: Das beginnt bereits beim Verständnis unseres Gesundheitswesens. Wir kennen alle den Stab des Asklepios, des Gottes der Heilkunst, und die Asklepiosschlange, die jedes Apothekenschild ziert. Asklepios verkörpert aber nur eine Gesundheitstheorie der Griechen. Diese "männliche" Theorie befasst sich mit der Definition, Diagnose und Therapie von Krankheiten. Die alten Griechen besaßen eine zweite: das weibliche Konzept der Göttin Hygieía. Sie ist die Wächterin der Gesundheit und symbolisiert, dass man bei einer maßvollen Lebensführung gesund bleibt.

sueddeutsche.de: Und warum ist Hygieía in Vergessenheit geraten?

Meryn: Heute vertrauen wir auf den medizinischen Fortschritt und auf ein System, das sich um uns kümmert - leider oft, wenn es zu spät ist. Im Vergleich zum 19. Jahrhundert hat sich unsere Lebenserwartung verdoppelt, auf rund 80 Jahre in den westlichen Industrieländern. Doch dem Fortschritt in der rein klinischen Medizin - Stichwort Computertomographie oder Chemotherapie - verdanken wir lediglich sechs bis acht Jahre. In Deutschland fließen rund zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts ins Gesundheitssystem. Das bloße Hineinpumpen von Geld heißt aber nicht, dass wir gesünder werden. Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts. Das klingt banal, aber das begreifen die meisten Patienten erst, wenn sie vor mir sitzen.

Auf der nächsten Seite: Männer delegieren Ihre Gesundheit an die Frauen.

"Der Körper ist keine Maschine"

sueddeutsche.de: Und deshalb wiederholen Sie in Ihrem Buch bereits hundert Mal gelesene Banalitäten wie "Lieber Walken statt Zappen" oder "Nichtrauchen wirkt wie eine Ganzkörperkur"? Sind wir wirklich so unbelehrbar?

siegfried meryn

Siegfried Meryn ist Facharzt für Innere Medizin und lehrt an der Medizinischen Universität Wien.

(Foto: Foto: assm.at)

Meryn: Das ist wahrscheinlich eine der Schlüsselfragen. Wir leben nun einmal alle in einem gesellschaftlichen Kontext. In dieser Konsumgesellschaft wird uns die Illusion vorgegaukelt, dass es für oder gegen alles eine Wunderpille gibt. Solche Versprechungen machen wir in dem Buch nicht, sondern zeigen unangenehme Wahrheiten auf. Das Krankheitsspektrum hat sich verschoben - hin zu den chronischen Erkrankungen und zu den zum Teil vermeidbaren - wie Herzinfarkte oder Diabetes. Wir müssen also lernen, präventiv zu agieren.

sueddeutsche.de: ... Und kürzen den Sportunterricht, obwohl ein Drittel der deutschen Schüler übergewichtig ist?

Meryn: Das ist ein Fehler. Denn diese Menschen bekommen mit 40 statt mit 70 Jahren Gelenksprobleme und mit 45 Jahren Diabetes Typ 2 und nicht erst im Alter. Ebenso verhält es sich mit dem Rauchen: Wie lange wissen wir schon, wie schädlich es ist! Dennoch lässt sich ein Rauchverbot gegen eine protestierende Industrie und Gastronomie schwer durchsetzen. Die Systeme, in denen wir stecken, sind träge. Der Schweinehund des Menschen auch. Deshalb unser Appell: Du musst selbst für dich Verantwortung übernehmen!

sueddeutsche.de: Sie schreiben, dass inbesondere Männer sich "zu Tode leben"? Brauchen sie besondere Appelle?

Meryn: Absolut. In unserer westlichen Gesellschaft "delegieren" Männer nach wie vor gerne ihre Gesundheit an die Frau. Das heißt, die Frau kümmert sich um die Ernährung und die Medizin, der Mann selbst hält sich für unverletzbar. Welcher Mann geht freiwillig zur Vorsorgeuntersuchung? Frauen tun dies mindestens einmal pro Jahr. Auch lassen sich weniger Männer gegen Grippe impfen, obwohl die Viren selbstverständlich nicht zwischen männlich und weiblich unterscheiden. Männer sehen ihren Körper als Maschine an, die funktionieren muss. Und betrachten ihre Gesundheit nicht als ein Investment in etwas, das man zum Leben benötigt.

sueddeutsche.de: Welche Gesundheitsrisiken unterschätzen wir denn besonders gern?

Meryn: Vor 15 Jahren stand in Untersuchungen der WHO der Faktor Stress an zehnter Stelle der Gesundheitsrisiken. In den Vorhersagen für 2010 bis 2015 steht er mittlerweile an zweiter Stelle. Das ist eine dramatische Verschiebung, denn was sind 15 Jahre in der Geschichte der Menschheit? Panikattacken und Depressionen nehmen zu. Das zeigt, dass wir uns durch die Digitalisierung, Globalisierung und Aufhebung von Zeitlimits offensichtlich Welten schaffen, in der uns die Zeit für die Anpassung fehlt. Wir leiden verstärkt unter Rückenproblemen, weil sich unser Skelett noch nicht angepasst hat an die Evolution vom Jäger zum Sammler zum Schreibtisch. Aber wir erwarten tatsächlich, dass unsere Psyche innerhalb weniger Jahre mit derlei drastischen Veränderungen zurechtkommt.

sueddeutsche.de: Können Sie abschließend eine Faustformel für ein langes gesundes Leben nennen?

Meryn: Das kann ich versuchen, aber sie wird nur halb medizinisch und halb im Spaß formuliert sein. Also: Ein Mal täglich zehn Minuten zu Fuß gehen (Der deutsche Mann geht im Schnitt 380 Meter pro Tag!). Zwei Liter Wasser pro Tag trinken. Drei Mal täglich kleine Mahlzeiten zu sich nehmen. Vier Mal täglich bewusst kleine Denkpausen für sich einlegen, Ruhe geben, die Augen schließen. Fünf Mal täglich (sofern ich im Büro arbeite) aufstehen, sich dehnen und strecken. Sechs Stunden mindestens schlafen pro Nacht. Sieben Tage die Woche Obst und Gemüse essen. Acht-ung vor Nikotin, Alkohol und zu viel Koffein! ... Neun ... jetzt wird's schwierig ...

sueddeutsche.de: ... Mindestens neun Tage Urlaub machen pro Jahr?

Meryn: Genau! Und zehn Mal täglich lachen!

Siegfried Meryn, Christian Skalnik: "Wer gesund stirbt, hat mehr vom Leben". Ecowin Verlag, 19,95 Euro.

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