Zwischenstopp:Wie im Flug

Für unsere Sommerserie haben wir Autorinnen und Autoren um Texte über Transiträume und Haltestellen aller Art in nah und fern gebeten. Henning Ahrens begleitet einen 71-Jährigen im Flugzeug.

Von Henning Ahrens

Für unsere Sommerserie haben wir Autorinnen und Autoren um Texte über Transiträume und Haltestellen aller Art, Orte des Aufbruchs oder Innehaltens in nah und fern gebeten.

Kurze Prüfung durch die Stewardess, dann trägt Otto Pohl seine dreiundneunzig Kilo, einundsiebzig Lebensjahre und gut elftausend Resthaare durch den Gang, schiebt die Tasche mit modernster Kommunikationstechnik ins Gepäckfach. Er schließt den Gurt - herrliches Klacken! - und blickt aufs Flugfeld. Natur? Die ewigen Zuckerrüben, der Raps und der Mais, Wälder wie zum Appell angetretene Bataillone? Nein, nein, dann lieber dies: Graues Flugfeld, der zur Startbahn ruckelnde Airbus, der wippende Flügel, das heulende Triebwerk.

Flugangst kennt er nicht, bekommt beim Start, vom Druck auf den Sitz gepresst, aber feuchte Finger. Andererseits: Dies ist Hannover. Gute Stadt, ja, doch was soll hier schon passieren? Die Preußen sind längst einmarschiert, und er fliegt ja nur nach München, will seinen frisch geworfenen Enkel begutachten - leider endlich Großvater.

Die Trennung vom Erdboden, höher und höher, die Ausläufer der Stadt, dann ab nach Süden. Innehalten, klar, wunderschön, aber bitte nicht an lauschigem Orte, sondern so: ambulant und stationär zugleich. Bewegte Ruhe, wie im Zug, im Flugzeug. Vorbeihuschende Landschaft, Gedankenflüge. Alles, was man durch das Fenster sieht, kann Aufschluss über Geschichte und Gegenwart geben. Otto Pohl schaut in die Tiefe: Das Raster der Felder, kaum Wald, also guter Ackerboden. Irgendwo dort unten, im Halbrund von Höhenzügen, die sich nach Norden auftun, stand seine Wiege, hat er noch ein Haus, vermietet an Wohlstandskinder, die ihn mit ihren Ansprüchen nerven.

Und nun ein Enkel.

Heinrich. Immerhin: Heinrich der Löwe, ein Braunschweiger, hat die Keimzelle der nachmaligen Stadt München gegründet - eine Kreuzrippe der Geschichte. Verbindungen knüpfen, Bezüge herstellen: Eine Sache des Alters?

Und nun ein Enkel.

Schon sind die alten Jagdgründe entglitten, überfliegt der Airbus Mittelgebirgiges. Jahre, Orte und Menschen, Perlen auf einer Schnur, die am Ende reißt. Die Perlen kullern in Winkel, purzeln in Ritzen, das war's. Pohl winkt der Stewardess, ordert einen Whisky, unwillkürlich flirtend, denkt aber zugleich: "Sie ist bestimmt fünfzig Jahre jünger." Fünfzig Jahre. Unfassbar!

Sie hat grüne Augen. Zum Dahinschmelzen.

Und nun ein Enkel.

Er hat ein Geschenk dabei, denn der Halter des Stammes (was auch immer das sei) muss gewürdigt werden, ist ja klar, und immerhin sorgt sein Sohn, im Gegensatz zur Tochter, für Nachwuchs, wenn auch recht spät - erst das Vergnügen, dann die Arbeit, aber so sind sie, die jungen Leute. Früher . . . Otto Pohl verzieht den Mund, trinkt ein Schlückchen: Wer nur noch von "früher" spricht, ist so gut wie tot.

Der Kapitän weist darauf hin, man sehe Frankfurt im Osten, und Pohl, der passend sitzt, wirft einen Blick auf die ferne Stadt, Geburtsort seiner verstorbenen Frau. Und nun ein Enkel. So ein Jammer. So ein Jammer ... Aber was soll man tun? Man kann nur den Rücken durchdrücken, sich in das Unvermeidbare fügen, denn alles andere wäre würdelos. Die Krankheitslitaneien, die ewige Jammerei - kläglich, erbärmlich, dämlich. Jeder Lebensabschnitt will bewältigt werden.

Und nun ein Enkel. Otto Pohl nickt vor sich hin, verzieht entschlossen den Mund. "Entschuldigung?", sagt seine Sitznachbarin, die sich mit ihrem Handy zusammengestöpselt hat. "Könnten Sie etwas leiser murmeln?" Murmeln? Er nickt. Ertappt. Leiser. Ja. Schließt die Augen.

Das "Ping!" der Anzeige für die Gurte weckt ihn. Landeanflug. Er ist eingeschlafen - hoffentlich nicht mit offenem Mund. Ein Augenwinkelblick, aber seine Nachbarin gibt durch nichts zu erkennen, dass er sie gestört hat. Otto Pohl reißt die Augen weit auf, holt tief Luft, und plötzlich erfüllt ihn pure Freude. Auf den Wurm, seinen Sohn, die Schwiegertochter. Ein Leben wie im Flug. Aber wenn er aus dem Flugzeug steigt, wird es weitergehen.

Er hat einen Enkel.

Henning Ahrens, geboren 1964 in Peine, lebt in Frankfurt am Main. 2015 erschien sein Roman "Glantz und Gloria".

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