Zwischenstopp:Am Pier von Neapel

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Immer ist es halb neun oder neun, wenn die Piero della Francesca den Hafen von Neapel verlässt. Am Pier steht der Schriftsteller Ulrich Peltzer und erinnert sich an längst vergangene Fahrten mit der Fähre.

Von Ulrich Peltzer

Für unsere Sommerserie haben wir Autorinnen und Autoren um Texte über Transiträume und Haltestellen aller Art, Orte des Aufbruchs oder Innehaltens in nah und fern gebeten.

Entweder hat sich alles verändert - oder meine Erinnerung ist falsch. Kein hoher Gitterzaun mehr um das Hafengelände in Neapel, weit und breit keine Beamten der Guardia di Finanza, keine Carabinieri. In einem dreißig Jahre alten Notizbuch steht, dass wir gleich zwei Mal gefilzt wurden, bevor wir auf die Fähre konnten, Einzelheiten sind mir entfallen. Vielleicht lag es an Dario, der uns zum Pier begleiten wollte, und dem man von weitem und auch in der hereinbrechenden Dämmerung noch ansah, dass er schlimm drauf war; aber Dario besaß einen Ausweis, irgendein amtliches Papier, das ihm bescheinigte, rechtmäßiger Empfänger einer von der Stadtverwaltung wöchentlich ausgegebenen Morphiumration zu sein, seine Zimmertür in der großen dunklen Wohnung seiner Mutter hatte er mit einem Vorhängeschloss gesichert.

Seit damals bin ich nicht mehr von hier mit dem Schiff nach Palermo oder Stromboli gefahren, Arturo und Filippo haben Neapel, wo sie aufgewachsen sind, inzwischen verlassen, und vielleicht ist Dario heute so clean wie Arturos Schwestern, wer weiß. Nächtelang trieben wir durch die Straßen, von der Bar Egidio übers Sinsemilla zum Spinnaker, Zigaretten kaufte man bei einem älteren Mann, der Gennaro hieß, und die Päckchen in einem kleinen Korb aus dem dritten oder vierten Stock herabließ, gegen Vorkasse, versteht sich. Als hätte man Zeit ohne Ende, reine Gegenwart.

Neben der Fähre liegt ein riesiges Kreuzfahrtschiff, es gibt Busspuren, zwei neue Terminals. Aber was heißt neu, wenn man so lange irgendwo nicht gewesen ist, fast ein halbes Leben, von Kindern begleitet, die mittlerweile volljährig sind? Die Tickets habe ich im Netz bestellt, nach einigem Suchen finden wir den Schalter, wo sie uns ausgehändigt werden, noch immer sprechen die Leute eine Sprache, die ich kaum verstehe, italienisch ist es nicht.

Die Reisenden, die in der Halle warten, sind älter, als wir waren, eine Reihe Amerikaner, Franzosen, Schweden, die auf den Vulkan hochwollen, Bergschuhe an ihre Rucksäcke gebunden. Allein die Idee hätte Liborio, der immer schwarz trug, Nietenarmband, Nietengürtel, nur ein halb mitleidiges, halb nachsichtiges Lächeln abgerungen . . . aber ich werde mich noch wundern, Aberdutzende, die sich jeden Nachmittag mit lizenzierten Bergführen auf den steilen Weg zum Krater des Stromboli machen.

Was ich erzählt habe, bevor wir losfuhren, kommt mir selber auf einmal erfunden vor, scheint nichts anderes mehr zu sein als Teil eines Romans, den ich zu schreiben versuche. Ich lasse mir von einem der Mädchen das iPhone geben, Kopfhörer, tippe die Lautstärke von "Everybody Wants to Rule the World" nach oben. "The Night belongs to Lovers" von den 10 000 Maniacs. Und schon ist es wieder vorbei. Wir können jetzt auf die Fähre, vor uns liegen zehn Stunden auf dem Meer. Die besten Plätze sind immer die in einer der hinteren Ecken des Aufenthaltsraums, das weiß ich noch. Wir breiten unser Gepäck aus und gehen aufs Deck. Unter den Sohlen ist das Vibrieren der Schiffsdiesel zu spüren, es dämmert, es ist halb neun, wie es immer halb neun oder neun war, wenn die Piero della Francesca den Hafen von Neapel verließ.

Nach und nach erfasst der Blick das ganze Panorama der Bucht, in der sich die Stadt im Schein zahlloser Lichtpunkte an eine Kette von Hügeln schmiegt. Ist doch schön, oder? frage ich in den warmen Fahrtwind hinein, wahnsinnig schön, bekomme ich zur Antwort, schade, dass das nicht Berlin ist.

Ulrich Peltzer, geboren 1956 in Krefeld, lebt als freier Autor in Berlin. 2015 erschien sein Roman "Das bessere Leben" bei S. Fischer.

© SZ vom 07.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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