Zum Tode von Irving Penn:Aus Haut wird Marmor

Er veredelte die Vergänglichkeit und arrangierte die Schönen zu Stillleben. Ein Nachruf auf Irving Penn, den Mode- und Porträtfotografen mit dem eisigen Blick.

Holger Liebs

Die Fotografie stellt die bewegte Welt still. Irving Penns Modelle aber mussten manchmal regelrecht strammstehen - und wenn sie nicht parierten: wehe ihnen. So erging es etwa den Stubenfliegen in "Summer Sleep" (1949). Das vor einen Ventilator wie schlafend hingestreckte Model fotografierte Penn durch ein Fliegengitter hindurch, die Dame wirkte durch die Unschärfe des Rasters gesehen fast unwirklich entrückt. Und da sich die Insekten vor der Blickbarriere nicht seinen Wünschen fügen wollten, klebte er leblose Präparate an den Rost.

Ein Perfektionist und Pedant war er, der, als er ein Tablett voller umstürzender Gläser ablichten sollte, aus Authentizitätsgründen auf Glas aus feinstem Baccarat-Kristall bestand. Bei den Aufnahmen sollen Dutzende der kostbaren Gefäße zu Bruch gegangen sein.

Sein großer Kollege und Antipode unter den wichtigen Modefotografen des 20. Jahrhunderts, Richard Avedon, ließ die Models hüpfen, tanzen, exaltiert lachend und wie in Schwerelosigkeit verharrend - nicht so Penn. Die makellose Silhouette, die das Gewand erst ins rechte Licht rückt, war sein Ziel, Arabesken nicht seine Sache. "Er verlieh der Bewegungslosigkeit neue Poesie", schrieb eine Redakteurin der Vogue, für die Penn ein halbes Jahrhundert lang fotografierte.

Die Schönen spielten in seinen Fotos immer kalte personae; reserviert, distanziert, arrangiert, fast wie in Stillleben. Im Jahr 1947 schuf Penn ein berühmtes Gruppenbildnis, "Twelve of the most photographed Models of the Period" - kein Gedanke an die ungezwungen-kuschligen Get-togethers der heutigen Campbellschifferevangelistas. Penns Damen wirken, jede isoliert in jeweils charakteristischer Pose, so cool und stiff-upper-lip, als hassten sie einander.

Nicht zufällig hat Penn in drei Genres besonders reüssiert: in Modefotografie, Bildnissen und Stillleben. Umstürzend - und zunächst stark angefeindet - etwa seine Aufnahmen schnöder, aufgelesener Zigarettenkippen aus den siebziger Jahren. Die zerdrückten, schrundigen Gossenfundstücke mutieren, von Penn in Schwarzweiß verewigt und auf edlem Platinpapier abgezogen, zu prähistorischen Fundstücken, musealen Preziosen. Die Stummel sähen aus wie Menschen, die für Penn Porträt sitzen, schrieb eine Kritikerin des New Yorker.

Veredelte Vergänglichkeit: Bisweilen ergehen sich Penns Stillleben in Vanitas-Symbolik, manchmal ähneln sie auch Gemälden von Morandi, mit fast seriell aufgereihten Karaffen, Pokalen, faulem Obst, auch Schädeln - und dann, als surrealistisches Aperçu, gesellt sich noch ein breitgetretener, aufgeplatzter Schuh dazu, auf der Ferse balancierend.

Zwei Aufnahmen zeigen besonders, wie entgegengesetzte Pole, Penns Bandbreite im Stillleben-Genre: "Theatre Accident" (1947) bietet eine unverhofft entleerte Edelsteinhandtasche (Opernglas, Ohrring, Kippe, Taschenuhr, einige Pillchen) auf bräunlichem Geläuf nebst schwarzlackierten Damenschuh dar- eine Produktaufnahme, wie sie damals völlig unüblich war; beinahe anstößig muss sie gewirkt haben in den Vierzigern.

Dann aber, drei Jahrzehnte später, 1977, tiefgefrorene Gemüse, noch in der kubischen Form ihrer Tupperware-Gefängnisse, aufgeschichtet zu einem Turm aus Himbeeren, Bohnen, Mais. Das Anorganische wird bei Penn situativ verlebendigt, das Organische hingegen buchstäblich kaltgestellt. Nie aber scheint er tatsächlich hinaus auf die Straße zu gehen; alles wird ihm zum kalten Präparat vor neutralem Fond. Es gebe in Penns Welt "nichts zu lachen", schrieb Karl Markus Michel.

Penn, 1917 geborener Sohn eines Uhrmachers und einer Krankenschwester, dessen jüngerer Bruder Arthur später Filme wie "Bonnie und Clyde" drehen sollte, entschied sich zunächst dazu, Maler zu werden. Ein Mexikoaufenthalt heilte ihn von diesem Wunsch. Er heuerte 1943 bei der Vogue an. Zuvor, in den Dreißigern, war er schon vom berühmten Art Director Alexey Brodovitch, einem russischen Emigranten aus Paris, zum Designer ausgebildet worden.

In den angewandten Künsten also arbeitete er, prägte das Erscheinungsbild der Vogue mit mehr als 150 Titelbildern, gestaltete die Corporate Identity der Kosmetiklinie "Clinique" mit. Dennoch vertraten ihn Galerien, sammelten Museen wie das MoMA seine Aufnahmen. Das lag auch an seinen ausgeprägten Reisen und ethnographischen Studien, aber vor allem an seinen Bildnissen. Das Model Jannet Flammer lobte ihn einmal: "Ihr Hitchcock-Porträt in der Vogue ist ein wunderbares Stück Monstrosität; im Grunde reinster Goya". Der Dargestellte war weniger begeistert: "Entsetzlich! Mein Dank an Mr. Penn, ausgesprochen in der Hoffnung, dass es noch umgestaltet wird, sowohl Gesicht als auch Pose."

Penn hat einige der besten Porträts des 20. Jahrhunderts geschaffen. Über Jahrzehnte etwa immer wieder von seiner Gattin, dem Model Lisa Fonssagrives. Aber auch von Truman Capote, in sich versenkt, mit riesigen Händen, die seinen Kopf umfassen (1965); Colette, in dramatischer Untersicht, eine silbern veredelte Königin eines fernen Reiches (1951); Francis Bacon, ein Melancholiker mit grotesk verzerrtem Gesicht vor verknitterten Atelierfundstücken (1962); W.H. Auden, Gloria Swanson, John Cage, Duke Ellington, Henri Cartier-Bresson, die Dietrich, Picasso - Epochenbilder allesamt. Und alle in mortifizierendem Schwarzweiß.

Dabei ist eine seiner beeindruckendsten Serien bereits im Jahr 1948 entstanden; sie bringt Penns Ansatz auf den Punkt. Er treibt die Porträtierten buchstäblich in die Ecke, postiert sie im spitzen Winkel zweier verkratzter Wände; am Boden liegen Kabel herum. Die wenigsten können sich aus diesem Gefängnis befreien. George Grosz, der Flüchtling, in die Enge getrieben: ein Bild, das fast zu Tränen rührt. Igor Strawinsky, die Hand an die Ohrmuschel haltend, fragenden Blicks: Penn soll absichtlich geflüstert haben, damit der Komponist genau diese Geste mache. Dann aber wieder Marcel Duchamp, ganz Dandy, genüsslich an der Pfeife ziehend, als wolle er sagen: Nee, mit mir nicht, mein Lieber.

Penns eisiger Blick verstand es, aus Haut Marmor zu machen, mit Hilfe chemischer Mischungen, metallischer Salze, die er aufs Fotopapier aufbrachte. Seine "Nudes", geschaffen 1949-50, sind Gegenbilder zur steifen Modefotografie sehnigdünner Körperideale: weiches, zerfließendes Fleisch, alabastern die Haut, makellos weiß, zu Torsi zerstückelt, kopf- und fußlos, extrem verfremdet. "Meine größte künstlerische Erfahrung" nannte Penn diese Bilder.

Die gefühlsseligen Sechziger waren dann nicht mehr seine Zeit. Die "Hell"s Angels" oder Hippiegruppen stilisiert er in bewährter Manier zu leblosen Statuen. Das war nicht die Aufbruchsästhetik jener Jahre. Doch Penn blieb sich treu. Bis heute. Sein Werk sei eine "stählerne Einheit", schrieb der Kritiker Richard Woodward. Am Mittwoch Morgen ist Irving Penn in Manhattan gestorben. Er wurde 92 Jahre alt.

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