Zum Tod von Walter Jens:Rhetoriker von kindlicher Reinheit

Walter Jens 1979

Er gab dem verpönten Genre Festrede wieder Gewicht: Walter Jens 1979 auf dem SPD-Parteitag in Berlin.

(Foto: dpa)

Walter Jens lehrte nicht nur die Redekunst, er übte sie - an der Universität, vor Parteien, Unternehmen und dem DFB. Er hat sich aufgezehrt für das, was er als seine republikanische Pflicht erkannte. Nun ist der Literaturkritiker im Alter von 90 Jahren gestorben.

Ein Nachruf von Stephan Speicher

Walter Jens ist tot, mit ihm ist ein großes Stück der alten Bundesrepublik gestorben. Seit den späten fünfziger Jahren hat der Wissenschaftler, Kritiker und vor allem der flammende Redner die öffentlichen Debatten bewegt.

Er war der Intellektuelle seines Landes schlechthin, "der Redner unserer Republik. Genauer: Unser Redner dieser Republik", wie ihn sein Freund Marcel Reich-Ranicki mit einer ironischen Spitze rühmte. Jens war eine Excelsior-Figur der Öffentlichkeit, aber manchem ging seine nie versagende Beredsamkeit auch gehörig auf die Nerven. Literatur und Fernsehen, Kirche, Fußball, Lungenheilstätten und natürlich die Politik - in seiner großen Zeit äußerte sich Jens zu all dem und noch mehr.

Er wurde 1923 geboren, als Kind einer bürgerlichen, aber nicht vornehmen Hamburger Familie. Der Vater war Bankdirektor oder auch nur gehobener Angestellter - die Auskünfte schwanken -, die Mutter Volksschullehrerin. Der Sohn besuchte die berühmte Gelehrtenschule des Johanneum und studierte während des Krieges Germanistik und Klassische Philologie, als schwerer Asthmatiker war er kriegsuntauglich. Mit 21 wurde er bereits promoviert mit einer Arbeit über die Wechselrede bei Sophokles, mit 26 war er habilitiert, diesmal ging es um "Tacitus und die Freiheit".

Seine literarischen Arbeiten errangen Aufmerksamkeit, auch im Ausland, vor allem der Roman "Nein. Die Welt der Angeklagten." Doch ganz das Richtige war es nicht, der Autor sah es selbst. Später bemerkte er, er habe das Handwerkliche ganz gut beherrscht, mehr sei ihm nicht gelungen. Über die Enttäuschung, kein großer Schriftsteller zu werden, half ihm sein neues akademisches Vorhaben hinweg. Die Universität Tübingen schuf einen Lehrstuhl für Allgemeine Rhetorik, den ersten in Deutschland. Das war seine Sache.

Jens muss ein großer akademischer Lehrer gewesen sein. Immer interessierend und interessiert, den Studenten zugewandt, anspruchsvoll, nie von oben herab. Jeder in Tübingen kannte ihn, fast jeder liebte ihn, man war stolz auf diesen Mann, der aus der gelehrten Welt zu allen sprach.

Exemplarischer Intellektueller, bis zuletzt

Denn Jens lehrte nicht nur die Redekunst, er übte sie, und dies in einem Land, in dem die Rhetorik immer als eine zweitklassige Sache galt. Die Pointe dabei: Er trat ausgerechnet mit der Festrede auf. Festrede, das heißt bei uns so viel wie hohl, Festredner so viel wie Schwätzer. Aber Jens gab diesem Genre plötzlich Gewicht. Er wurde eingeladen von Theatern und Gymnasien, vom Architektentag, der SPD, der Deutschen Heilstätte Davos, dem Verband der Nahverkehrsunternehmen und dem Deutschen Fußballbund. Über die Rede, die er dort 1975 hielt, ist viel gelacht worden. Jens begann mit alten Lexikoneinträgen zum Thema Fußball, mokierte sich über die Vorstellung eines drei Meter hohen Tores und fuhr fort, die Keeper müssten "wahre Enakssöhne" gewesen sein.

Freude an der Öffentlichkeit

Jens stand auf der linken Seite, er mischte sich in den öffentlichen Streit ein. Berühmt ist seine Teilnahme an der Blockade von Mutlangen, als es darum ging, den Protest gegen die Nachrüstung auszudrücken. Vor dem Amtsgericht Schwäbisch Gmünd vereidigte er sich, er habe "im Geiste Albert Schweitzers, Martin Luther Kings und Albert Einsteins" gehandelt, darunter tat er's nicht. Gleichwohl wurde er wegen Nötigung verurteilt, das Urteil später allerdings aufgehoben. Während des ersten Golfkriegs versteckten er und seine Frau zwei amerikanische Deserteure, auch das brachte sie in die Presse und vor Gericht. Der Vorwurf der Selbstinszenierung lag hier wie dort auf der Hand, ganz ohne Wahrheit wird er nicht gewesen sein. Aber Rhetorik und überhaupt Teilhabe an der Demokratie gibt es nicht ohne eine gewisse Freude an der Öffentlichkeit, das ließ sich von Jens lernen.

Wer über Jens aus persönlicher Erfahrung spricht, dem kommt das Wort leicht auf die Zunge, das von einer fast kindlichen Reinheit. Das ist merkwürdig bei einem Rhetoriker, die Rhetorik hat es ja mit genau berechneter Wirkung zu tun. Doch den Eindruck von Raffinesse oder Schlauheit machte Jens nie. Er war wohl auch eitel, aber nicht eigensüchtig. Dazu gehörte auch die Bedürfnislosigkeit in allen äußeren Dingen. Zwei Sakkos waren bekannt, die ausgebeult an ihm herunterhingen, anders sah man ihn nicht. Gutes Essen war ihm gleichgültig. Tütensuppe, eine Tasse Tee, danach ein Apfel: das tat es auch. Er war ganz ein Mann, der an die "höhere Macht des Geistigen" glaubte, wie es bei dem von ihm so geliebten Fontane heißt. Etwas Traulich-Altertümliches, auch sehr Deutsches war um ihn.

Die Rolle als exemplarischer Intellektueller hat Jens bis zuletzt erfüllt, auf eine traurige, und doch ihm gemäße Weise. Er, der mit seinem Freund Hans Küng ein Buch über das Recht zum Freitod geschrieben hatte ("Menschenwürdig sterben", 1995) erkrankte an Alzheimer. Die Öffentlichkeit nahm durch Berichte seiner Frau und seines Sohnes Tilman daran teil, er hätte es sich wahrscheinlich auch nicht anders gewünscht. Denn hier war zu erfahren, wie leicht es ist, als Gesunder sich für den Fall einer schweren Erkrankung ein selbstbestimmtes Sterben vorzustellen. Und wie schwer (und vielleicht wie falsch), danach zu handeln, wenn die Situation da ist.

Jens hat sein ganzes Talent, seinen enorme Arbeitskraft in die Arbeit für den Tag gesteckt. Dafür ist er seinerzeit auch nicht ohne Lohn und Würdigung geblieben. Und doch wird man mit Respekt sagen müssen: Er hat sich aufgezehrt für das, was er als seine republikanische Pflicht erkannte.

Den vollständigen Nachruf lesen Sie in der Dienstagausgabe der Süddeutschen Zeitung, auf dem iPad und Windows 8.

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