Zum Tod von Peter Zadek:Vom wilden Ufer

Er war der frechste und der hellste Kindskopf des Theaters: Zum Tod des großen, unverfrorenen Bühnen-Anarchisten Peter Zadek

Christine Dössel

"Ich träume von einem Theater, das Mut macht", schreibt Peter Zadek im Vorwort zu seinem schönen Theaterbuch "Das wilde Ufer". "Es ist ein Theater für hungrige Menschen, gierige Menschen, für Menschen, für die Theater nicht ein delikates Dessert ist, sondern eine notwendige, lebensnotwendige Mahlzeit, ohne die sie in der zerstörten Zivilisation, die wir errichtet haben, zu Grunde gehen. Es ist ein Theater der Fantasie, der befreienden Gefühle und der gewagten Gedanken - ein romantisches Theater also." Und er fügt hinzu: "Es ist auch ein Theater, das die Realität unseres Lebens und Sterbens beschreibt."

Zum Tod von Peter Zadek: Einzigartiger Provokateur: Peter Zadek im Jahr 1989.

Einzigartiger Provokateur: Peter Zadek im Jahr 1989.

(Foto: Foto: dpa)

Die Realität unseres Sterbens - sie hat den großen, einzigartigen Peter Zadek, diesen unerschrockenen, leidenschaftlichen, ganz und gar undogmatischen, glühend liebenden, aber oftmals unliebsamen Menschentheaterzauberer und Provokateur, nun eingeholt. Es ist bestürzend, wenn man sich vergegenwärtigt, welch ein bedeutendes Stück Theatergeschichte mit ihm, diesem ebenso berühmten wie berüchtigten Skandal- und Altmeister der Regie, zu Ende geht. Keiner hat das deutsche Theater derart vom Kopf auf die Füße und damit auf den Boden der dreckigsten Tatsachen und menschlichsten Regungen gestellt wie der sinnenfreudige Zadek, der, aus England heranziehend, wie ein Wirbelsturm über die konventionelle, noch in allen Gliedern erstarrte Nachriegstheaterlandschaft fegte, um diese aufzumischen und zu prägen - ein halbes Jahrhundert lang.

Geboren wurde Peter Zadek am 19. Mai 1926 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Berlin-Wilmersdorf. 1933, nach der Machtergreifung der Nazis, emigrierten die Eltern mit dem damals Siebenjährigen nach England. Erst London, dann Oxford, wo Zadek Germanistik und Romanistik studierte. Schon als Schüler hatte er den Captain Hook im "Peter Pan" gespielt, die Bühne jedoch verlassen, als ihn ein Krokodil fressen sollte: "That's unfair!" Dann lieber als Regisseur selber die Geschicke leiten! An der Old-Vic-School nimmt er 1946 Regieunterricht bei Tyrone Guthrie und bringt seine ersten Inszenierungen heraus. Er lernt Edward Gordon Craig und dann auch Jean Genet kennen, dessen Stück "Die Zofen" er 1952 inszeniert. Mitte der fünfziger Jahre arbeitet Zadek als Regisseur bei der BBC und als Frondienstleister in der englischen Provinz, wo es damals galt, jede Woche ein neues Stück herauszubringen. Zadek zog das durch bis zum Nervenzusammenbruch.

Seinen Ruf als Skandalregisseur handelte sich der unangepasste Exil-Deutsche schon 1957 in London ein, als er im Art's Club Theatre Jean Genets "Der Balkon" zur Uraufführung brachte, angesiedelt in einem Phantasiebordell, was dem Autor ganz und gar nicht gefiel. Zadek sei ein "Schwachkopf", tobte Genet und bedrohte den Regisseur mit einer Pistole. Er habe das Stück "zur Sensation" gemacht, es sei " vulgär und billig".

Vorwürfe dieser Art musste sich Zadek in seiner Laufbahn noch oft anhören, in der ein Skandal auf den anderen folgte. Schon seine erste Theaterarbeit in Deutschland, Jean Vauthiers "Kapitän Bada" 1958 in Köln, brachte die Zuschauer zur Erregung, weil Zadek die Ehefrau, die ihren Mann verlassen will, nicht nur einmal, nein, gleich dreihundertmal fragen ließ: "Wo ist der Ausgang hier?" - obwohl es gar keinen Ausgang gab. 1962 dann, am Theater Ulm, an das ihn Kurt Hübner geholt hatte, machte Zadek mit der Uraufführung von Brendan Behans irischem Säufer- und Freiheitsstück "Die Geisel" Furore: nacktes Fleisch, betrunkene Guerrilleros, Transvestiten, Musik - und über das hustende Parkett zogen dicke Rauchschwaden dahin. Es war eine wilde Kabarett-Sause, wie sie das deutsche Theater bis dahin nicht kannte. "Die Deutschen", sagte Zadek einmal, "sind sicherlich das einzige Volk auf Erden, das ein schlechtes Gewissen mehr genießt als eine schöne Frau, und genauso sicherlich das einzige Volk, das im Theater Langeweile als positives Erlebnis einstuft."

Lesen Sie auf Seite 2 von Zadeks langjähriger Liebe zu einem sehr alten Mann.

Schwitzend wie eine Sau

Mit der gepflegten Langeweile machte Zadek radikal Schluss. Aus England, wo er sich nie wirklich geliebt und dazugehörig fühlte, brachte er nicht nur seinen trockenen Witz und den näselnden, immer etwas blasierten Tonfall mit, sondern auch all jene Ingredienzien, die seine Inszenierungen so unverfroren anders machten: britische Coolness, Verrücktheit und Verspieltheit, eine Vorliebe für Music Hall, Revuen, Film und Boulevard, die Lust am Spektakel, am Gesellschaftspiel, an der Unterhaltung. Und seine große Liebe zu Shakespeare natürlich und zur englischen Sprache, eine Liebe, die nie je nachgelassen hat. Bald schon gesellten sich Ibsen und Tschechow als seine Leib- und Seelendramatiker hinzu. Das "Dreigestirn meiner Theatergötter" nannte er sie.

Zadeks langjährige Auseinandersetzung mit Shakespeare begann 1960 in Ulm mit dem Stück "Maß für Maß", mit der damals 18-jährigen Hannelore Hoger und dem jungen Friedhelm Ptok. Das Bühnenbild baute Wilfried Minks, mit dem Zadek von da an eng zusammenarbeitete - auch in Bremen, wo sie das Stück 1967 noch einmal neu inszenierten: In einem Raum, der nur aus farbigen Glühbirnen bestand, turnten junge, damals noch unbekannte Schauspieler wie Edith Clever und Bruno Ganz in Jeans und Streetwear über die Stühle und veranstalteten einen hundsgemeinen Hexensabbat. Auch den "Kaufmann von Venedig", den Zadek später noch öfters inszenierte - etwa 1988 am Wiener Burgtheater mit dem imposanten Gert Voss - brachte er erstmals in Ulm heraus.

Frisch, frech, anarchisch, frei

1962 folgte Zadek seinem Mentor Kurt Hübner nach Bremen, wo er bis 1967 als Schauspieldirektor den legendären "Bremer Stil" prägte. Damals zog der Pop ein ins Theater. Alles war möglich, und Zadek, mit Mitte dreißig der älteste unter den Jungregisseuren, war der freieste, frechste und revolutionärste von allen. Er brachte Musicals und zeitgenössische Stücke aus England auf die Bühne und zementierte mit Wedekinds "Frühlings Erwachen", 1965 inszeniert als schrille Pop-Art-Revue vor einer Roy-Lichtenstein-Kulisse, seinen Ruf als Bildungsbürgerschreck.

Wie neu und aufregend das alles war, damals in den wilden sechziger Jahren, als der Heimkehrer Zadek nicht nur beim Publikum, sondern auch bei jungen Frauen - etwa Judy Winter - wie eine Bombe einschlug, das kann man sehr anschaulich und lehrreich in Zadeks 1998 erschienenen Autobiographie "My Way" nachlesen. Der zweite Teil ist 2006 unter dem Titel "Die heißen Jahre" erschienen und beschreibt vor allem die Zeit seiner Bochumer Intendanz von 1972 bis 1975: Jahre, in denen Zadek als "ein Irrer unter Irren" das Theater als populäre Anstalt etablierte.

Für die Eröffnung schrieb er mit seinem Freund Tankred Dorst, mit dem er anarchisch-experimentelle Filme wie "Rotmord" gemacht hat, eine Revue: "Kleiner Mann, was nun" nach dem Roman von Hans Fallada; sie erschloss ganz neue Zuschauerschichten. Aber er hat in Bochum mit "König Lear" (1974) und "Hamlet" (1977), beide mit dem wunderbaren Ulrich Wildgruber, oder mit seiner gefeierten "Hedda Gabler" (1977, mit Rosel Zech) auch große, wegweisende Shakespeare- und Ibsen-Inszenierungen geschaffen, in deren Zentrum immer die Schauspieler standen. Ihnen die "größtmögliche Freiheit für ihre Phantasie" zu lassen, war, bei aller Drastik der Mittel, stets Zadeks Bestreben.

"Wie ein pornographischer Horrorfilm"

Nach den turbulenten Bochumer Jahren, in denen er, anders als der politische Peter Stein an der Berliner Schaubühne, keinerlei Mitbestimmungsmodelle zuließ, übernahm Zadek noch einmal eine Intendanz: von 1985 bis 1989 am Hamburger Schauspielhaus - dort, wo er 1976 mit Shakespeares "Othello" seinen wohl größten Skandal überhaupt ausgelöst hatte. Das Premierenpublikum soll geschrieen und sich gegenseitig geschlagen haben, weil die Inszenierung, so Zadek, "wie ein pornographischer Horrorfilm" war: "Der dicke, große, fette, nicht sehr ästhetische Wildgruber schwitzte wie eine Sau", und seine Mohren-Schminke färbte an der drallen Eva Mattes ab, bevor Othello sie im wilden Rausch splitternackt über die Bühne schleifte und dabei tötete. Ihre Leiche hängte er schließlich über einen Vorhang, mit dem Hintern zum Publikum.

Als Hamburger Intendant feierte Zadek zwar große Regieerfolge, etwa mit dem Musical "Andi", für das er die Einstürzenden Neubauten engagierte - und natürlich mit Wedekinds "Lulu", in der eine großartige, barbusige Susanne Lothar die Männer in den Wahnsinn trieb. Als Intendant aber war Zadek so chaotisch wie glücklos, so wie er auch im Leitungsdirektorium des Berliner Ensembles (1993) nur ein kurzes Gastspiel gab.

Zadek, der in seiner Karriere manchen Flop gelandet hat, auf den Regieschocker festzunageln, wäre grundfalsch. Er war ein Meister der psychologischen Feinzeichnung und hat neben Spektakeln und Revuen hellsichtig-wagemutige, eindringliche Seelenerforschungen unternommen. Am schönsten vielleicht in seinem Wiener "Kirschgarten" von 1996, wo er Angela Winkler, Sepp Bierbichler, Hermann Lause und all die anderen, die dieser Regisseur zu virtuosem Schauspielertheater beflügelte, in Tschechows Unglücksmenschen eine Leichtigkeit finden ließ, mit der das Leben auszuhalten ist. Auch Ibsen lotete er in einer Tiefe aus wie kaum ein anderer: "Baumeister Solneß" mit Barbara Sukowa und Hans-Michael Rehberg im Münchner Residenztheater (1983); "Wenn wir Toten erwachen" in den Münchner Kammerspielen (1991); "Rosmersholm" mit Angela Winkler und Gert Voss am Wiener Burgtheater (2002) - Meilensteine in Zadeks Menschentheater, das so zart und traurig-dunkel sein kontne, wie es manchmal hart und böse war. Und als er Angela Winkler dazu animierte, den "Hamlet" zu spielen (1999 in Wien), als kleinen, schmalen Prinzen, der die Last der Welt zu schultern hat, war das ein Triumph.

Der unvergleichliche Peter Zadek, dieser Spinner, Träumer und ewige Kindskopf, hat dem Theater selige Glücksmomente geschenkt. Auch wenn er im Alter oft auf die heutigen Ausformungen jenes Regietheater schimpfte, das er miterfunden hat; auch wenn er in seinen letzten Inszenierungen nicht mehr an die früheren Erfolge anzuknüpfen vermochte, so liebten wir ihn doch als den großen, tollen Meister und Revolutionär - und als den Außenseiter, der er ein Leben lang blieb. In der Nacht zum Donnerstag ist Zadek nach langer Krankheit im Alter von 83 Jahren gestorben. Einer wie er kommt nicht nach.

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