Zum Tod der Schauspielerin Gisela Stein:Der Geist baut den Körper

Die Schauspielerin Gisela Stein hielt den Menschen für schlecht von Grund auf. Im Theater kämpfte sie stolz für das Pathos. Jetzt starb Stein im Alter von 74 Jahren.

Christopher Schmidt

Als Engel hat sie angefangen, zu den Teufeln fühlte sie sich hingezogen - die laue Mitte, der feste Boden unter den Füßen hat sie nie interessiert. Die Bühne war für Gisela Stein immer mehr als die Bretter, die die Welt bedeuten. Für sie bedeutete vielmehr die Welt selbst nur ein paar Bretter, zugige Notunterkunft für die verlorene Zeit, in der sie nicht Theater spielte. Die Bühne aber, das war die Sprungschanze in den Himmel und der Fahrstuhl in die Hölle; in der Schwebe zwischen diesen gegensätzlichen Klimazonen hat sie sich am ehesten heimisch gefühlt und am wohlsten, wenn diese Gegensätze ineinander spielten.

Zum Tod der Schauspielerin Gisela Stein: Mit dem Sporn einer kühlen Streitbarkeit bewehrt: Gisela Stein im Jahr 1999.

Mit dem Sporn einer kühlen Streitbarkeit bewehrt: Gisela Stein im Jahr 1999.

(Foto: Foto: dpa)

Dass man die Wahrheit nur in ihren Extremen zu fassen bekommt, könnte der Wahlspruch der Theater-Extremistin Gisela Stein gewesen sein, die in all den Figuren, die sie spielte, den Antagonismus suchte, im Hellen das Dunkle, im Einfachen das Komplizierte. Durch diese Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz wirkte sie unnahbar auf der einen Seite wie auf der anderen unendlich durchlässig; geharnischt und mit dem Sporn einer kühlen Streitbarkeit bewehrt und doch wieder schutzlos und berührbar. So setzte sie ihre Rollen unter Hochspannung und schuf ihnen eine Aura von flimmernder Ambivalenz und Geheimnis.

Instrument der Dichter

Am Anfang aber war der Engel, als der die Fünfzehnjährige bei einer durchreisenden Schauspieltruppe mitwirkte. Danach ("Ich wollte wer anders sein") fuhr sie per Anhalter nach Frankfurt und sprach, mit langen Zöpfen und ausgestopftem BH, bei der Bühnengenossenschaft vor. Als man sie dort wieder nach Hause schickte, versprach sie: "Ich komme wieder!" Gisela Stein hat ihre Drohung triumphal wahr gemacht. Ein Jahr nach ihrer Niederlage war sie an der Schauspielschule in Wiesbaden, mit 17 im ersten Engagement in Koblenz. Sie kam nach Krefeld, wo Erwin Piscator sie entdeckte, nach Essen holte und bald nach Berlin empfahl. Hans Lietzau und Fritz Kortner wurden ihre Lehrer.

Etwas von einem Feldzug haftet Gisela Steins Laufbahn an; unter den Göttinnen des Theaters war sie mit ihrem agonalen Temperament eine Nike, die sieghaft zur Tragödin reifte und ihren Ruhmestaten empfindliche private Opfer brachte. Sie schlug Theaterschlachten - und das Publikum in ihren Bann, rang mit den großen Frauenrollen der Klassik genauso wie mit großen Regisseuren: Peter Zadek und George Tabori, Robert Wilson und immer wieder Dieter Dorn, dessen prima diva assoluta sie wurde. Auch mit ihrem wichtigsten künstlerischen Partner war sie nur unter Krächen zusammengewachsen, sie, die sich manchmal unter Ohrfeigen mit "diesen Herren" anlegte. Sie verstand sich als Instrument der Dichter, die sie spielte, nicht der Regisseure, und genoss ihre Rolle als querulantischer Plagegeist und Megäre.

Tage zwischen Leben und Tod

Geboren wurde diese kämpferische, unbequeme Schauspielerin 1934 in Swinemünde als Tochter einer Polin und eines deutschen Seemanns. Das Wasser war zeitlebens das Element, dem sie sich verwandt fühlte, weil es immer in Bewegung ist, wie sie selbst es war mit ihrer "kalten Aktivität", wie sie das nannte. Um so erstaunlicher, dass sie von 1979 an fast drei Jahrzehnte lang zu Dieter Dorns Münchner Ensemble gehörte, in dem sie Ibsens Hedda Gabler gewesen war, Shakespeares Olivia und Becketts Winnie, Wedekind und Kleist gespielt hat, aber auch Botho Strauß und Herbert Achternbusch. Eine stolze Rachegöttin war 1999 ihre Hekabe, passend zur antikischen Wucht ihres Furors. Das ganze Charakterfach der Weltliteratur hat sie durchmessen, doch die eine Rolle, die Gisela Stein immer spielen wollte, blieb ihr versagt: Shakespeares Richard III., den bösesten aller Bösewichter.

Gisela Stein hielt den Menschen für schlecht von Grund auf - für Schauspieler eine fruchtbare Arbeitshypothese; bei der Stein verband sich das negative Menschenbild mit gedanklicher Schärfe. Sie war keine Einfühlungsschauspielerin, sondern eignete sich ihre Rollen mit kühlem Verstand und auch preußischer Zucht an. Fast seelenlos, verhärtet wirkte manchmal ihre gestaute Energie, erkaltet zu schroffer Emphase oder wächserner Virtuosität in der stolzen Souveränität, mit der sie über ihre staunenswerten Mittel gebot.

Im August 1982 aber schien es, als wäre sie dem Bösen, das sie auf der Bühne suchte, leibhaftig begegnet. Nach einem Autounfall schwebte sie tagelang zwischen Leben und Tod. Zahllose Operationen waren nötig, um ihren zerschmetterten Leib zu retten. Gisela Stein hat sich nach ihrer Genesung auch als Schauspielerin noch einmal erfunden. Sie vernichtete alle Zeugnisse ihres bisherigen Lebens und setzte sich gewissermaßen neu zusammen, so wie sie ihre Bühnenfiguren erst analysierte und dann Stück für Stück zusammenfügte.

Hoher Mut

"Es ist der Geist, der sich den Körper baut", heißt es in Schillers "Wallenstein", und es war Gisela Steins Geist und ihr unbeugsamer Wille, der sich einen neuen Körper gebaut hat, einen, der nach einem Wort von Pascal aus "denkenden Gliedern" zu bestehen schien. Keine hat die gewusste Todesnähe so aus ihrem Körper sprechen lassen wie die Schauspielkünstlerin Gisela Stein, und doch waren ihre denkenden Glieder immer auch die funny bones einer Komödiantin.

1996, als Penelope in Botho Strauß' "Ithaka" war sie zunächst ein unbeweglicher Fleischberg, fett geworden im Warten auf den Geliebten. Beim Wiedersehen mit Odysseus dann sind die Pfunde mit einem Schlag abgefallen, rank und schön empfängt sie den Heimkehrer, und keine hätte das so spielen können wie Gisela Stein, die ihre Wiedergeburt tatsächlich erlebt hat. Und in ihrer letzten Theaterrolle als Lissie in "Die eine und die andere", wiederum ein Stück von Strauß, war diese verlassene, alternde Frau bei Gisela Stein eine Windsbraut von elsterhafter Behändigkeit, eine Liebeskleptomanin, die mit scharfem Schnabel und offenherziger Wollust sich ebenso komisch wie ergreifend ins Leben verkrallt.

Eine hochmütige Schauspielerin hat Stein sich einmal genannt, und ihren Hochmut übersetzt als "hohen Mut". Ihr Mut bestand darin, wie unbedingt sie um Erkenntnis stritt, und die Höhe, das war der Geist, ohne den Erkenntnis nicht zu haben ist. Am Montag ist Gisela Stein im Alter von 74 Jahren gestorben; mit ihr verliert das Theater ein Stück von seinem hohen Mut.

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