Zum 100. Geburtstag von Benjamin Britten:Gesänge der Einsamkeit

Benjamin Britten

Auch ein guter Dirigent: Der Komponist Benjamin Britten (rechts) 1968 in Ost-Berlin bei einer Probe mit dem Kammerorchester der Deutschen Staatsoper.

(Foto: dpa)

Benjamin Britten, vor 100 Jahren geboren, war ein vollkommener Musiker, der sich nie den ungeschützten Ausbruch der Gefühle erlaubte und immer die Form wahrte. Über einen Grübler, in den man sich immer wieder neu verlieben kann.

Von Reinhard J. Brembeck

Was ist wunderbarer, als einen singenden Menschen auf der Bühne zu haben, und ihn mit musikalischen Tönen begleiten zu können? Aber Musik in dieser einfachen, stilisierten Form ist letztlich eine erfundene Sprache; sie hat zwar keine Bedeutung, aber sie vermag uns das ganze Drama des menschlichen Lebens in wenigen Noten zu vermitteln - wenn man klug genug ist, die richtigen Noten zu finden."

Nur selten ist Benjamin Britten ganz bei sich, der vor einhundert Jahren an der englischen Ostküste geborene vollkommene Musiker, dessen Verzweiflungsstück "Peter Grimes" (1945) zu den wenigen großen Opernerfolgen des 20. Jahrhunderts gehört und nach wie vor gern gespielt wird. Wer erwartet, dass Musik unmittelbare Äußerung eines Komponisten ist, wird von Britten enttäuscht. Denn Britten durchlebt als Mensch zwar grausame Konflikte, ist aber von Haus aus zurückhaltend.

Puritanismus, Höflichkeit, Arbeitswut und Understatement mögen diese Scheu verstärkt haben. Also kennt Brittens Musik nie den ungeschützten Ausbruch der Gefühle. Britten, der sich sein Leben lang phantasievoll mit der Tonalität auseinandersetzte, steht wie alle Engländer der französischen Musikästhetik nahe, deren Formalismus und Zurückhaltung. Er ist ein Klassizist. Einer, der selbst beim Sturz in den Abgrund noch die Form wahrt.

Ganz ungeschützt spricht sich Britten nur dann aus, wenn er sich alleine glaubt. Wenn keine Bühne in der Nähe ist, auch nicht der lebenslang von ihm beschäftigte Tenor Peter Pears. Solche intimen Momente finden sich vor allem in der Kammermusik, in den drei für seinen Freund Mstislaw Rostropowitsch geschriebenen Cello-Suiten, in den drei Streichquartetten.

Das letzte vollendete er, schon todkrank, in seinem geliebten Venedig, wo auch seine letzte Oper "Death in Venice" spielt. Britten selbst starb 1976 in dem englischen Küstenort Aldeburgh, wo er Jahrzehnte lang lebte und 1948 sein Musikfestival gründete.

Verzweifelt und grübelnd

Seine Suiten und Quartette zeigen fern vom Glamour der Opern einen introvertierten, verzweifelten und grübelnden Britten. Hier gibt er sein Wesen zu erkennen, hier traut er sich, im Lamento der ersten, der Barcarola der dritten Suite oder der "Serenissima" des dritten Quartetts, der zu sein, der er immer ist, was er aber gern vor der Welt verbirgt: der Sänger letzter Einsamkeiten.

Immer wieder scheint Britten die folgenden Zeilen aus seiner frühen Oper "The Rape of Lucretia" zu kommentieren: "Is all this suffering and pain, Is this in vain? Can we attain nothing But wider oceans of our own tears?"

In diese Stimme muss sich jeder verlieben. Ganz Jugend, ganz Ungestüm und Intensität, schwingt sie sich elegant und von keinem Zweifel angekränkelt in die Höhe. Hell ist der Klang - doch da ist auch etwas Verschattetes, Hintergründiges, ein Hauch brutaler Leidenschaft.

Liebe als eher geistige Stimulanz

Benjamin Britten lernte den Tenor Peter Pears 1937 kennen, sie zogen bald zusammen, gingen gemeinsam 1939 in die USA, wo sie drei Jahre lang blieben. Britten war enttäuscht vom Verlauf seiner Karriere, beide waren sie Pazifisten und beobachteten das Erstarken des Nazis mit Sorge.

In den USA erklärte Britten dann Pears seine Liebe auch musikalisch. Aber er tat es, wie für ihn typisch, über die Umwege der Sublimation, indem er sieben Sonette Michelangelos vertonte, fast alle sind an Tommaso de' Cavalieri gerichtet, den der Maler anhimmelte. Diese Stücke, die im italienischen Original vertont sind - was ihrer Dunkelheit nicht gerade aufhilft -, verhandeln Liebe eher als geistige Stimulanz denn als körperliches Begehren.

1942, gerade wieder nach England zurückgekehrt, haben die beiden den Zyklus aufgenommen, es ist eine der Sternstunden der Schallplattengeschichte. Peter Pears (1910-1986) ist wie immer der Extrovertierte und somit Gegenpart zum grüblerisch introvertierten Britten am Klavier. Doch nur zusammen, davon sprechen auch Michelangelos Texte, waren sie das Ganze.

Hätte es Pears nicht gegeben, so hätte es den erfolgreichen Opernkomponisten Britten nicht gegeben, und niemand würde sich heute mehr an diese beiden Musiker erinnern. Sein Leben lang wurde Britten durch Pears' Stimme inspiriert, die ihm all jenes verhieß, worüber er als Komponist, die Kammermusik zeigt es, nicht wie selbstverständlich verfügte: Ungestüm, Lebensfreude, Selbstbewusstsein, Sex-Appeal, Freiheit.

Pears war also nicht His Master's Voice und schon gar nicht der Diener seines Herrn. Er war für Britten unverzichtbare Muse. Und Britten verhinderte, dass Pears jemals überzog oder sich am Repertoire verhob. So konnte dieser Tenor, der fürs gängige Opernrepertoire eher ungeeignet erschien, als einziger unter den Sängern des 20.Jahrhunderts allein durch die Musik eines modernen Komponisten berühmt werden. Weil dieser ihm die Rollen und Lieder auf seine Kehle zuschneiderte.

Aber Britten war nicht nur ein sehr produktiver Komponist, sein riesiges Werk umfasst alle Genres und füllt über 60 CDs. Er war auch ein grandioser Pianist und Dirigent, dessen Interesse sich beileibe nicht auf eigene Werke beschränkte. Eine Reihe ausgezeichneter Aufnahmen belegt das. Dazu zählen Robert Schumanns schwierige und selten zu hörende "Faust-Szenen", es ist die letzte Aufnahme (1972) des schon schwer kranken Britten. Hier erforscht ein Komponist die Sensibilität eines wesensähnlichen Kollegen, hier wird sinnfällig, welche Qualen es mit sich bringt, kreativ zu sein und stets Neues zu schaffen.

Besonders bitterer Kontrast zwischen Ersehntem und Realität

Franz Schubert aber liegt Britten besonders. Rostropowitsch gelang daher, begleitet von Britten, die von Cellisten so gut wie nie bewältigte "Arpeggione-Sonate". Noch faszinierender gerät die "Winterreise". Wer Schuberts Zyklus für eine unbestreitbare Domäne der Baritone hält, der wird bei Pears & Britten schnell einsehen, dass nur eine Tenorstimme dieses klagende Lied anstimmen kann. Denn nur die Tenorstimme verspricht jene Seligkeiten und Paradiese, um die der Winterreisende beständig kommt, weshalb der Kontrast zwischen Ersehntem und Realität besonders bitter wirkt. Zuletzt möchte man sich zusammen mit Schubert, Britten und Pears im Bach ertränken - es scheint keinen schöneren Tod geben zu können.

Nach Benjamin Brittens Tod wurden all jene Vorbehalte, Vorurteile und Vorwürfe endlich offen gegen einen Musiker ins Feld geführt, der als der größte englische Komponist seit Henry Purcell gilt (womit allerdings noch nicht viel gesagt ist).

Brittens Affinität zu Jungen, seine Vernachlässigung der Frauen in den Opern, sein sich von der kontinentalen Avantgarde abkoppelndes konservatives Komponieren, sein patriarchalischer Umgang mit Gamelan und Nô-Theater, seine affirmative Nähe zu Königtum und Kirche, sein an puritanischen Idealen ausgerichteter Lebensstill und sein nie erfolgtes Coming-out, das seine Partnerschaft mit Peter Pears als rein musikalische Berufsbeziehung erscheinen ließ - all dies wurde nun heftig diskutiert und gegen ihn ins Feld geführt.

Doch diese Debatten erwecken den Eindruck, dass sie vor allem deshalb so leidenschaftlich geführt wurden, weil Britten ein sehr erfolgreicher und schwuler Komponist war. So wurde es zur Manie, sein Werk allein aus seiner Homosexualität zu erklären. Durchaus möglich, dass die damit schon in frühester Jugend verbundene Außenseiterrolle in ihn für die Leiden von anderen Außenseitern sensibilisiert hat. Aber es ist absurd, durch seine Homosexualität Meisterwerke wie das dritte Streichquartett, die "Michelangelo-Sonette" oder den "Peter Grimes" erklären zu wollen.

Zweifelhafter Ehrentitel

Ein anderes Missverständnis wurzelt im Meer. Englands Komponisten werden, dafür ist die Insellage genauso verantwortlich wie die generelle Unkenntnis ihrer Musik, gern als Realisten der Wellen abgetan, obwohl da Claude Debussy mit "La mer" der Ehrenplatz gebührt. Aber Britten tat mit "Peter Grimes", "Billy Budd" und "Death in Venice" sein Bestes, sich den zweifelhaften Ehrentitel des nautischen Musikers zu verdienen, und eine auf Realismus geeichte Aufführungstradition versucht gerade in England nichts anderes, als ihn darauf festzunageln. Das Festival in Aldeburgh krönte diese Bemühungen jetzt mit einem "Grimes", der am dortigen Strand, dem vermeintlichen Originalschauplatz, gegeben wurde.

Doch das Meer ist nur Staffage. Das zeigt ein Blick auf die letzte Szene der Oper, die die ultimative Verzweiflung des Sonderlings Grimes zeigt. Zwei seiner Schiffsjungen sind umgekommen, und so ist das eine eigenartige Gerichtsszene, die ihr Herkommen aus Verdis "Aïda" nicht verbirgt. Der Chor singt im Off immer wieder "Peter Grimes!" - das wirkt wie Dolchstöße. Das Orchester beschränkt sich wie in Brittens besten Momenten auf wenige Töne, die eine unausweichliche Atmosphäre skizzieren. Und auf der Bühne verzweifelt Peter Grimes.

Peter Pears hat diese Szene faszinierend introvertiert gesungen. Den genauso faszinierenden Gegenentwurf dazu lieferte Jon Vickers, der letzte große Heldentenor. Vickers lässt Grimes' Verzweiflung und ihre mutmaßlichen Gründe geradezu sichtbar werden. Das ging Britten zu weit. Denn das Deutliche, Explizite war nie seine Sache, und diejenigen Stücke, in denen er sich darauf einließ und in denen er den beschützenden Halbschatten des Mysteriums und der Vieldeutigkeit verließ, sind auch nicht seine besten.

Das gilt für die nach Thomas Manns berühmtester Novelle komponierte Oper "Death in Venice", die (allzu?) explizit Aschenbachs pädophile Visionen ausmalt. Kein Wunder, das derzeit Opern wie "Turn of the Screw" oder "Billy Budd" höher geschätzt werden. Weil dort ein unauflösbares Konglomerat aus Erotik, gesellschaftlichen Zwängen, Brutalität, Angstzuständen und Ausweglosigkeit so dicht wie genau komponiert ist.

Der Vorbehalt der Veräußerlichung gilt leider auch fürs "War Requiem", Brittens berühmtestes Stück, das aufgrund einer andächtigen Rezeption eher verklärt als kritisch rezipiert wird.

Britten vertont oft bombastisch und affirmativ den lateinischen Text der Totenmesse, aus seiner Hochachtung fürs Verdi-Requiem macht er keinen Hehl. Das wäre nicht weiter beachtenswert, sängen da nicht zwei Männer von einem Kammerensemble begleitet Gedichte des im Ersten Weltkrieg getöteten pazifistischen Dichter Wilfred Owen. Denn Britten scheint gespürt haben, dass Öffentlichkeit und Repräsentation ihm nicht wirklich liegen. Diesem Außen aber diese intimen Männerlieder entgegenzustellen und zuletzt sogar eine Synthese zu wagen, das wirkt gezwungen, weil weder ästhetisch noch inhaltlich vermittelt.

Vollkommende Klarheit des Ausdrucks

"Meine Technik besteht darin, alles Überflüssige zu beseitigen, um eine vollkommene Klarheit des Ausdrucks zu erreichen, das ist mein Ziel." Ein Ziel, das der Melodiker Britten in den Liedzyklen erreichte und in der Kammermusik. Englische Lyrik zu vertonen lernte er von Henry Purcell, daneben wurde ihm John Dowland (1563-1626) immer wichtiger. Über dessen berühmtes Lied "Lachrymae" stellte er 1950 "Reflections" für Bratsche und Klavier an.

Im Jahr 1963 komponierte er dann das "Nocturnal" für den genialen Gitarristen Julian Bream. Das ist eine Folge von kurzen Charakterstücken, oft einstimmig, jedes nur auf einen Gestus und die Linie konzentriert: Alles Überflüssige fehlt, es herrscht vollkommene Klarheit. Erst ganz am Ende verrät Britten, woher er die Anregung für seine Variationen nahm. Dann singt die Gitarre Dowlands todestrunkenes Lied "Come, heavy sleep, the image of true death", das jener Melancholie nachspürt, die Britten selbst in den trubeligsten Momenten seiner Opern nie verließ.

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