Zukunft des Journalismus (20):Zeitung in der Todesspirale

"Immer mehr Arbeit, immer weniger Einfluss": Marc Fisher von der Washington Post spricht über sterbende Massenmedien und die Gefahr für die Demokratie.

S. Weichert u. L. Kramp

sueddeutsche.de: Mr. Fisher, ein Ende der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise ist noch lange nicht in Sicht. Wie ernst sollten Journalisten die gegenwärtige Situation nehmen?

Zukunft des Journalismus (20): "Je mehr wir darüber reden, desto schlimmer wird es": "Washington Post"-Redakteur Marc Fisher.

"Je mehr wir darüber reden, desto schlimmer wird es": "Washington Post"-Redakteur Marc Fisher.

(Foto: Foto: Iris Ockenfels)

Marc Fisher: Sehr ernst, weil sie auch eine nie da gewesene Krise unseres Berufsstandes bedeutet. Derzeit ist die berufliche Existenz einer ganzen Journalistengeneration bedroht. Und selbst diejenigen, die ihre Jobs behalten dürfen, verlieren zunehmend an Einfluss. Sie mühen sich mehr ab als je zuvor und haben dadurch weniger Zeit für Qualitätsarbeit. Der Zusammenbruch des klassischen Geschäftsmodells journalistischer Arbeit hat letztlich dazu geführt, dass wir in einer Welt leben, in der zwar immer mehr Informationen verfügbar sind, sich die professionellen Berichterstatter aber um ihre Zukunft sorgen müssen. Auf diese Weise nimmt die Qualität der gesamten Medienberichterstattung stetig ab. Das sollte nicht nur Journalisten Sorgenfalten auf die Stirn treiben, sondern allen Bürgern.

sueddeutsche.de: Wenn Sie die technologischen Neuerungen der vergangenen zehn Jahre als Chance für den Journalismus begreifen: Wovon profitieren wir?

Fisher: Für die Befürworter des Internets sind es in erster Linie die partizipatorischen Qualitäten, die es uns ermöglichen, mehr Meinungen auszutauschen und Informationen über viele verschiedene Kanäle abzurufen. Ich aber habe die Sorge, dass es bei dieser Argumentation immer nur um die gut gebildeten und - wenn man so will - vernünftigen Nutzer geht. Der Fokus liegt also immer auf solchen Personen, die so viel Zeit und Kompetenz haben, Informationen im Netz überhaupt aufzuspüren. Menschen, die selten Zeitung lesen oder Nachrichten im Fernsehen sehen, sind die eigentlichen Verlierer des derzeitigen Medienwandels, denn sie sind weit davon entfernt, selbst die Initiative zu ergreifen und zehn verschiedene Sichtweisen einer Story im Internet zu lesen. Mit dem Aussterben der gedruckten Zeitung verlieren wir zudem die Möglichkeit, beim Überfliegen der Seiten zufällig über Nachrichten zu stolpern. Und mit dem Wechsel vom linearen Programm- zum Abruffernsehen im Internet bleiben wir auch nicht mehr beim beiläufigen Umschalten auf einem Nachrichtenkanal hängen, der gerade Wichtiges berichtet. Dieses beiläufig erworbene Wissen ist meiner Meinung nach essentiell für die Demokratie, weil es die Massen erreicht. Wenn uns diese Möglichkeit genommen wird, ist das ein wirklich schlimmer Verlust für unsere demokratische Gesellschaftsordnung.

sueddeutsche.de: Sie selbst bloggen sehr viel und produzieren eigene Podcasts. Welche Wege gibt es, professionellen Journalismus mit innovativen Ausdrucks - und Organisationsformen im Netz neu zu erfinden?

Fisher: Es ist ein langsamer Prozess für mich persönlich, weil ich ja nur nebenher ein Blog schreibe. Ich habe mich aber nie davor gescheut, neue Technologien und Techniken einzusetzen und mit ihnen zu experimentieren. Auch versuche ich regelmäßig, meine Leser einzubinden, zum Beispiel habe ich einmal in meinem Blog geschrieben, dass ich von einem gewissen Ereignis gehört hätte und die Leser um mehr Informationen dazu gebeten. Das ist eine neue Art informellen Crowdsourcings: die Intelligenz des Publikums nutzen, um an aktuelle Informationen zu gelangen. Bei der "Washington Post" ist diese Vorgehensweise ansonsten eher unüblich, aber einige andere Zeitungen nutzen das Internet mittlerweile für solche und ähnliche Zwecke - was größtenteils auch sehr sinnvoll ist.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie sich Qualitätsjournalismus künftig finanzieren lässt.

Zeitung in der Todesspirale

sueddeutsche.de: Mögen Sie die Leserkommentare auf Ihrer Website?

Fisher: Wir haben bei washingtonpost.com sehr früh damit begonnen, Leserkommentare in die Berichterstattung aller Ressorts einzubinden. Es gibt einige Kollegen, die in solchen Kommentaren eine Gefahr für unsere Glaubhaftigkeit erkennen und das für Teufelszeug halten. Viele Redakteure meinen, es lasse unsere Inhalte weniger glaubwürdig erscheinen, wenn unter seriösen Online-Nachrichtenbeiträgen Verunglimpfungen auftauchen. Es gibt aber andere Kollegen, mich eingeschlossen, die finden, dass Leserkommentare ein wichtiges Instrument des Dialogs mit den Lesern ist.

sueddeutsche.de: Welche Zukunft hat das Berufsbild des Community-Redakteurs, der ausschließlich für das Auswählen und Redigieren von Leserkommentaren zuständig ist?

Fisher: Wir haben automatische Filter auf unserer Webseite, die sowohl Beleidigungen als auch moralisch bedenkliche Verunglimpfungen blockieren. Sie funktionieren ziemlich gut, aber nicht perfekt. Meine eigene Erfahrung mit Kommentaren ist: wenn wirklich einmal etwas außer Kontrolle gerät, springt meist ein anderer Kommentator ein und hält dagegen. Diese Selbstkontrolle funktioniert in den meisten Fällen. Wir haben also keinen Kollegen, der ausschließlich Kommentare überwacht, das macht jeder bloggende Redakteur selbst.

sueddeutsche.de: Wie empfindlich reagieren Sie auf die Kommentare zu Ihren Artikeln?

Fisher: Ich mische mich nur ein, wenn eine spezielle Frage gestellt oder Fakten nachgefragt werden. Aber wenn ich persönlich angegriffen werde, reagiere ich so gut wie nie, denn ich hatte ja bereits in dem Artikel die Chance, meine Position deutlich zu machen - und dann sind die Leser an der Reihe.

sueddeutsche.de: Wie geht es dem traditionellen Verlagsgeschäft der Washington Post Company? Wie arg sind die Redaktionen von den Budgetkürzungen und Personaleinsparungen betroffen?

Fisher: Wir haben das Glück, dass unser Verlag einer Verlegerfamilie gehört, die sich immer schon dem seriösen Journalismus verpflichtet fühlt und dafür eine niedrigere Profitmarge in Kauf nimmt, als dies in der Branche für gewöhnlich der Fall ist. Anderseits sind auch wir nicht immun gegen die Gesetzmäßigkeiten des Marktes und haben ähnliche Probleme wie andere Zeitungen auch. Wir fragen uns ernsthaft, ob unsere Druckausgabe auf lange Sicht oder sogar mittelfristig noch profitabel ist. Vor einem Jahr hätte ich noch gesagt, dass gedruckte Zeitungen sicher noch mindestens ein Jahrzehnt existieren werden. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher.

sueddeutsche.de:: Sie als mehrfach ausgezeichneter Printjournalist geben der gedruckten Zeitung also nicht einmal mehr zehn Jahre?

Fisher: Ich möchte wirklich nicht übertreiben, aber wenn ich ehrlich bin, wird es nicht einmal mehr fünf Jahre dauern, bis Zeitungen verschwinden. Der Auflagenrückgang beschleunigt diesen Prozess mit einer solchen Geschwindigkeit, dass viele Fachleute in den USA inzwischen von einer "Todesspirale" sprechen. Wenn man sich darauf einlässt, wird die Beschleunigung noch weiter angefeuert, sprich: Je mehr wir darüber reden, desto schlimmer wird es.

sueddeutsche.de: Wie wirkt sich diese Entwicklung generell auf das Arbeitsklima in Ihrer Reaktion aus?

Fisher: Es ist vor allem ein moralisches Problem: Die Mitarbeiterzahl der Washington Post ist in den letzten Jahren von 950 auf etwa 680 Personen geschrumpft, dadurch haben wir viele ältere Kollegen verloren - eine ganze Mitarbeitergeneration war plötzlich weg. Zukünftig wird das aber noch weiter zusammenschrumpfen. Noch vor fünf Jahren gehörte ich zu den Mitarbeitern mittleren Alters. Heute gehöre ich plötzlich zu den Ältesten, ein merkwürdiges Gefühl. Was besonders fatal ist: Wir verlieren dadurch einen Großteil unseres institutionellen Gedächtnisses und wichtige Kompetenzen. Überlegen Sie mal: Wer soll uns noch erklären, wie stark wir uns verändern, wenn keiner mehr weiß, wie es früher war? Die wichtige Frage ist, ob wir uns entschließen, uns ab sofort auf die drei, vier Dinge zu konzentrieren, die wir gut können und den Rest abzustoßen.

sueddeutsche.de: Was fiele denn unter den "Rest", der notfalls abgestoßen werden könnte?

Fisher: Dieser Rest könnte alles sein, ausgenommen sind natürlich nationale und internationale Nachrichten, Regionalberichterstattung, regionaler Sport und Kunst. Es könnte zum Beispiel bedeuten, dass wir keine Sonntagsausgabe mehr produzieren, dass wir das Gesundheitsressort einsparen oder das Ressort zum Thema Essen. Dass wir nicht mehr über die weiter entfernten Vororte berichten, sondern uns nur noch auf die Innenstadt und die nahen Vororte beschränken. Das wäre alles möglich, aber es würde auch heißen, dass wir eine sinkende Auflage in Kauf nehmen müssten, denn einige unserer Leser würden daraufhin sicherlich ihr Abonnement kündigen.

sueddeutsche.de: Die Washington Post ist eine der führenden Marken im Qualitätsjournalismus. In den vergangenen Jahren expandierte der Verlag aber stark in Nebengeschäfte wie den Bildungssektor. Was steckt hinter dieser Geschäftsstrategie?

Fisher: Die Washington Post war früher das Herz des Unternehmens, mittlerweile ist sie nur noch ein Teil davon. Verstehen Sie mich nicht falsch: Diese Entwicklung ist das Beste, was der Zeitung passieren konnte. Nur so konnten wir uns einigermaßen vor den Problemen schützen, die etwa der New York Times oder anderen Blättern derzeit blühen. Letztlich muss aber auch die Washington Post irgendwie Geld verdienen. Daher ist es unsere Aufgabe, für die Redaktion eine gesunde wirtschaftliche Größe zu finden und neue Möglichkeiten, wie sich unsere Inhalte im Internet verkaufen lassen und Werbetreibende davon überzeugt werden können, dass die Leserschaft im Internet ebenso wertvoll ist wie die der gedruckten Zeitung.

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Zeitung in der Todesspirale

sueddeutsche.de: Mit welchen Herausforderungen müssen Journalisten in den kommenden Jahren rechnen?

Fisher: Die größte Herausforderung ist das nackte Überleben, nämlich, ob die Zeitung in ihrer jetzigen Form überlebt, und wie die Internet-Aktivitäten der Zeitungsverlage ausgestaltet werden. Bis zu welchem Grad ergeben Massenmedien als Informationsquelle überhaupt noch Sinn in einer Welt, in der die Nutzer glauben, sie seien selbst die Schleusenwärter des Nachrichtenflusses? Natürlich können sich die Menschen ihre eigenen Nachrichtenprofile erstellen, anderseits haben sie ein Verlangen danach, Geschichten zu erzählen und zu erfahren. Ich denke, dieses Verlangen ist es, das den Journalismus retten wird.

sueddeutsche.de: Wie meinen Sie das?

Fisher: In zehn Jahren wird der Journalismus vollkommen anders aussehen, als wir ihn aus unserer Berufserfahrung kennen. Er wird interaktiver und lässt mehr Spielräume zur Gestaltung durch die Nutzer zu. Das Problem dabei ist, dass es die Massenmedien im herkömmlichen Sinne nicht mehr geben wird. Wir leben ja in einer Ära, die aus tausenden von Nischen besteht, und das ist großartig für Menschen, die wissen, welches ihre Nische ist, und die die Fähigkeit besitzen, sich ihre eigene Nische zu schaffen. Es ist allerdings verheerend für den Großteil derjenigen, die sich nicht für Politik, die Regierung oder das Weltgeschehen interessieren. Auf den ersten Blick scheint das ein Problem des Journalismus zu sein, aber in Wirklichkeit ist es ein Problem für die Demokratie: Wenn es keine Massenmedien mehr gibt, die letztlich unsere gemeinsame Gesprächsbasis bilden und helfen, Politik und die Weltläufte zu verstehen, hat man keine informierten Wähler und keine funktionierende Demokratie mehr.

sueddeutsche.de: Haben Sie Hoffnung, dass sich der Qualitätsjournalismus künftig noch finanzieren lässt?

Fisher: Im Moment wird ja sehr viel experimentiert. Es gibt zum Beispiel gemeinnützige Projekte zur Förderung des Qualitätsjournalismus wie das Redaktionsbüro Pro Publica, das versucht, investigativen Journalismus zu betreiben und ihre Geschichten kostenfrei über das Internet zu verbreiten. Zudem gibt es Überlegungen in den Zeitungsunternehmen - beispielsweise auch bei der Washington Post -, Universitäten oder Stiftungen gezielt um Fördermittel zu bitten. Die Chancen auf eine Förderung des Qualitätsjournalismus durch gemeinnützige Geldgeber sind meiner Meinung nach viel versprechend, wir dürfen dabei aber nicht vergessen, dass die Nutznießer dieser Förderung wiederum eine wohlhabende Informationselite ist.

sueddeutsche.de: Welche Info-Angebote nutzt dann die große Masse?

Fisher: Die Mehrheit der US-Amerikaner orientiert sich an den am stärksten frequentierten Suchmaschinen wie Google, Yahoo und MSN. Das ist genau der Punkt, an dem es interessant wird: Wenn Zeitungen verschwänden und stürben, dann verlören Google News und Yahoo News einen Großteil ihrer Nutzer, weil sie keine eigenen Nachrichten produzieren. Sollte dieser Fall eintreten, brauchen sie Inhalte. Und die Frage ist: Werden sie das Rad neu erfinden und selbst Nachrichtenredaktionen gründen? Oder sagen sie: "Sorry, wir machen keine Nachrichten"? Oder versuchen sie, Nachrichten durch die Nutzer zu generieren, indem sie die Leser auffordern, Informationen zu liefern? Ich glaube, sie werden versuchen, Freiwillige zu finden, es wird sich jedoch schnell herausstellen, dass es keinerlei Qualitätskontrolle dafür gibt. Und deshalb ist es durchaus möglich, dass wir in eine Phase von fünf oder zehn Jahren eintreten, in der alles auseinander bricht, jeder gefeuert wird, und schließlich Google und Yahoo 10.000 Journalisten einstellen und alles von Neuem beginnen. Ich denke, wir werden schlimme Zeiten durchmachen, doch danach wird die Sonne umso heller scheinen.

sueddeutsche.de: Sehen Sie den Staat in der Pflicht, sich finanziell für das öffentliche Pressewesen einzusetzen?

Fisher: Für die USA schließe ich eine solche Lösung kategorisch aus. Wir sind zu sehr der Überzeugung verfallen, dass die Regierung keinesfalls Einfluss auf die Presse ausüben darf.

Marc Fisher, geboren 1958, ist seit über 20 Jahren Redakteur der Washington Post. Seine Kolumne erscheint dreimal wöchentlich in der Druckausgabe, außerdem bloggt er täglich auf washingtonpost.com ("Raw Fisher") und betreibt den wöchentlichen Politik-Chat "Potomac Confidential". Jeden Tag kommentiert Fisher die aktuelle Nachrichtenlage beim Washington Post Radio und schreibt eine weitere Kolumne über Radio und Musik ("The Listener"), die in der Sonntagsausgabe der "Post" erscheint. Vor seiner Kolumnisten- und Bloggertätigkeit war Fisher verantwortlicher Seite-1-Redakteur für Features und Breaking News. Fisher studierte Geschichte an der Princeton University und arbeitete ab 1981 für den Miami Herald, bevor er 1987 als Lokalreporter zur Post wechselte. 1989 ging Fisher als Auslandskorrespondent der Post nach Deutschland, zunächst als Leiter des Bonner, dann des Berliner Büros. Fishers publizistische Arbeit wurde mit zahlreichen Journalistenpreisen geehrt, unter anderem mit dem Associated Press Award für seine Kolumnen und mit dem Overseas Press Club Award für Auslandsbe-richterstattung. 2004 lehrte Fisher als Ferris Professor für Journalistik an der Princeton University. Fisher lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Washington DC.

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