Zukunft des Journalismus (19):"Fröhlicher Moment"

Exklusivität, Enthüllungen, Expertise: Medienexperte Mitchell Stephens begreift den Wandel von Print zu Online nicht als Weltuntergang - sondern als Privileg.

S. Weichert, A. Matschke und L. Kramp

sueddeutsche.de: Mister Stephens, seit März 2007 betreibt der ehemalige Printjournalist Paul Gillian den Blog "Newspaper Death Watch". Auf Gillians "Todesuhr" stehen bereits neun Zeitungen, die ihre Printausgabe komplett eingestellt haben. Seine Prognose ist, dass die Krise 95 Prozent aller bedeutenden amerikanischen Großstadtzeitungen zerstören wird.

Mitchell Stephens

Mitchell Stephens sieht den Prozess des Zeitungssterbens als Chance.

(Foto: Foto: New York University)

Mitchell Stephens: Solchen Prognosen stimme ich generell zu - Zeitungen werden sterben. Wir sollten das aber nicht als Weltuntergang begreifen, sondern als ein Privileg, dass sich dieser Prozess vor unseren Augen abspielt und wir die Möglichkeit haben, genauer hinzusehen und die Mechanismen zu analysieren. Wir Medientheoretiker haben das ja schon seit langem vorausgesagt und uns darüber Sorgen gemacht. Jetzt erreicht uns der Medienwandel tatsächlich, sogar meine eigene Familie: Ich habe drei Kinder, alle um die 20. Sie sind gut ausgebildet, aber keines von ihnen liest täglich eine gedruckte Zeitung.

sueddeutsche.de: Sie stimmen also auch in die Schwanengesänge vom Ende der Zeitungsära ein?

Stephens: Nein, ich verstehe mich keinesfalls als Prediger des Niedergangs! Ich glaube nicht, dass uns der Himmel auf den Kopf fallen wird, wenn es Zeitungen irgendwann nicht mehr geben sollte. Natürlich ist es verdammt traurig, große Institutionen sterben zu sehen, vor allem wenn man mit ansehen muss, wie talentierte und engagierte Menschen ihre Jobs und Verantwortung verlieren. Dennoch glaube ich, dass diese Entwicklung in vielerlei Hinsicht ein fröhlicher Moment für den Journalismus werden kann.

sueddeutsche.de: Aber viele Experten prophezeien, dass automatisch die Demokratie in Mitleidenschaft gezogen wird, sobald Zeitungen eines Tages verschwinden.

Stephens: Eine solche Kausalität herzustellen, finde ich wirklich absurd. Historisch gesehen wurden alle neuen Medien argwöhnisch betrachtet. Wir sehen uns heutzutage mit einem sehr nützlichen neuen Medium konfrontiert: Die digitale Kommunikation ist noch ein Baby, geradezu lächerlich jung, wenn wir sie mit der altehrwürdigen Druckschrift vergleichen. Es ist keine Überraschung, dass viele Leute den Tod der alten, weisen Dame beklagen und misstrauisch gegenüber dem unverbrauchten Nachwuchs sind. In der Rückschau geht dann ja meistens alles gut. Ich finde die Kraft dieser neuen elektronischen Kommunikationsform erstaunlich! Ihre Fähigkeit, die Demokratie zu unterstützen, ist sogar besser.

sueddeutsche.de: Ihrer Meinung nach geht es also gar nicht um die Verdrängung des professionellen Journalismus, sondern nur um neue Formen und Wege der Verbreitung?

Stephens: Heute bekommen wir den Großteil unserer Nachrichten kostenlos. Es begann langsam mit Radio und Fernsehen, und jetzt sprudeln Nachrichten regelrecht aus dem Internet heraus. Journalisten müssen ihre Rolle überdenken, sie müssen zu etwas zurückkehren, das sie vor der kurzen Phase des Nachrichtenverkaufens schon geleistet haben, nämlich Analyse, Interpretation, Meinung.

sueddeutsche.de: Wie geht es weiter für die Zeitungen?

Stephens: Viele Zeitungsleute in den USA laufen derzeit wie aufgeregte Hühner herum und rufen: "Wer wird in Zukunft berichten, wenn wir es nicht tun?" Ich denke, dass sich diese Frage bald gar nicht mehr stellt, denn die reinen Fakten über Ereignisse werden immer und überall problemlos erhältlich sein. Der gedruckten Presse bleibt dann aber zumindest der investigative und analytische Journalismus vorbehalten, also genau das, was es nicht so ohne weiteres kostenlos im Internet gibt: intelligente Interpretationen und Einordnungen des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Eine journalistische Form, die ich "Weisheitsjournalismus" nenne.

sueddeutsche.de: Glauben Sie ernsthaft, dass die Leute künftig dafür überhaupt noch bezahlen wollen, wenn sie die meisten Informationen kostenlos im Internet erhalten?

Stephens: Schauen Sie sich doch die New York Times von heute an: Auf der ersten Seite ist eine Exklusivgeschichte über verwundete Iraker, die sonst keine Zeitung hat. Kein großer Artikel, aber ein interessanter - eine weitere Facette des Krieges. Und das ist sehr wertvoll, weil ich so eine Geschichte über die Newsportale von Yahoo oder Google nicht bekomme. Wenn es also interessante Exklusivgeschichten auf der Website der New York Times gibt, rufe ich ihre Seite ab.

sueddeutsche.de: Das ist ein gutes Stichwort: Wie sieht denn ein tragfähiges Geschäftsmodell der gedruckten New York Times aus?

Stephens: Soviel ist sicher: Die Leute werden für die gedruckte New York Times kein Geld ausgeben, wenn dort nur Meldungen zu lesen sind, die sie schon längst aus dem Internet kennen. Ein großes Problem dieser Zeitung ist, dass sie in ihrer Redaktion vor allem Generalisten beschäftigt. Es reicht aber nicht aus, die gleichen Stories wie alle anderen zu bringen, nur etwas smarter. Wer dem Abwärtstrend trotzen will, braucht Exklusivität, Enthüllungen, Expertise. Wenn eine Zeitung Analysen und fundierte Meinungen bringt, sind die Leute bereit, dafür zu zahlen. Und zwar nicht nur Geld, sondern auch Aufmerksamkeit - die kann dann an die Werbetreibenden weiterverkauft werden.

Lesen Sie auf Seite 2, warum Mitchell Stephens sich keine Sorgen um den Qualitätsjournalismus macht.

"Fröhlicher Moment"

sueddeutsche.de: Welche Zeitungsmarken werden denn Ihrer Ansicht nach überleben? Und welche Rolle spielen branchenfremde Investoren, wie der Immobilienmagnat Sam Zell, der unter anderem die Los Angeles Times gekauft hat?

Stephens: Meiner Meinung nach ist es unerheblich, wer die Los Angeles Times besitzt. Dem Blatt laufen ja ohnehin die Leser in Scharen davon. Für solche großen Zeitungsunternehmen ist es sehr schwierig, ihren Kurs zu ändern - das ist wie bei einem Tanker, bei dem nur sehr langsam das Ruder herumgerissen werden kann. Generell ist es für den Marktführer unter den traditionellen Medien schwierig, auch Marktführer der neuen Medien zu werden. Ich wäre angenehm überrascht, wenn sich etwa die New York Times schlussendlich zum qualitativen Leitmedium im Netz durchsetzen würde. Diese Position ist nämlich längst nicht besetzt. Im Gegensatz zum Zeitungsmarkt gibt es hier allerdings weltweit Mitbewerber.

sueddeutsche.de: Könnten diese Rolle nicht auch journalistische Online-Angebote wie die Huffington Post oder Salon.com übernehmen - das tun sie ja schon teilweise?

Stephens: Da bin ich mir nicht so sicher. Wir neigen ja oft dazu, in unseren traditionellen Denkmustern verhaftet zu bleiben - obwohl es diese Online-Magazine ja erst seit einigen Jahren gibt und wir ihnen eine Chance geben müssen.

sueddeutsche.de: Was halten Sie denn von der Idee, dass Qualitätsjournalismus durch gemeinnützige Stiftungen oder Philanthropen gefördert wird, wie es zum Beispiel bei Pro Publica der Fall ist?

Stephens: Das ist keine dumme Idee, aber ich bin momentan derart begeistert davon, was im Web geschieht, dass ich mir um die Zukunft des Qualitätsjournalismus ohnehin keine Sorgen mache. Ich muss immer wieder an die Worte des US-Journalisten I. F. Stone denken, der sagte: "Die Freiheit der Presse nutzt all jenen, die sie besitzen." Genau das ist jetzt viel demokratischer organisiert: Jeder kann die Presse "besitzen", wenn er oder sie will. Mein Kollege Jay Rosen betreibt etwa den einflussreichen Blog "Pressthink", der ihn fast nichts kostet: kein Papier, keine Druckkosten, keine teuren Vertriebswege - nur einen Internet-Anschluss.

sueddeutsche.de: Brauchen wir künftig überhaupt noch Journalisten, wenn es so viele fleißige Blogger gibt?

Stephens: Journalist zu werden und zu sein, war schon immer kompliziert. Es ist nicht wie bei Ärzten und Anwälten, also bei Berufen, für die man bestimmte Examina absolvieren muss. Journalisten konnten es immer auf ihre eigene Art tun und haben diese Möglichkeit auch rege genutzt. Die Möglichkeit, sein eigenes Ding zu machen, ist heute noch viel größer. Dennoch müssen wir uns fragen, ob wir eine andere journalistische Ausbildung brauchen. In gewisser Weise ist es eine großartige Zeit für die Journalistenausbildung, weil wir uns nicht aufs bloße Nachrichtensammeln beschränken, sondern einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen: die Fähigkeit, zu denken, zu verstehen, zu analysieren, zu interpretieren und etwas in einen Kontext zu stellen. Journalisten müssen künftig nicht nur gebildeter sein, sondern vielseitig gebildeter. Die Zukunft gehört, so paradox das klingen mag, den Multi-Spezialisten.

sueddeutsche.de: Könnten Sie uns ein Beispiel aus ihrer Fakultät nennen?

Stephens: Alle unsere Graduiertenprogramme werden gerade auf Spezialisierung getrimmt. Wir haben jeweils ein eigenes Programm für Wissenschafts-, Umwelt- und Gesundheitsjournalismus. Parallel zum Journalistikstudium studieren die Teilnehmer Naturwissenschaften. Zudem müs-sen sie einen naturwissenschaftlichen Abschluss haben, um aufgenommen zu werden. Dasselbe gilt für Finanz- und Wirtschaftsberichterstattung sowie für verschiedene Programme, in denen sich die Teilnehmer auf eine bestimmte Weltregion konzentrieren.

sueddeutsche.de: Wünschen Sie sich insgeheim ein Umdenken von Medienwissenschaftlern und Journalistenausbildern?

Stephens: Der Medienbetrieb ist generell sehr traditionsbewusst. Was mich an der derzeitigen Journalistenausbildung wirklich stört, ist der fehlende Wille zum Experimentieren. Selbst wenn wir den Leuten Journalismus im Internet beibringen, tun wir so, als wüssten wir bereits alles. Das ist aber eine glatte Anmaßung: Blogs gibt es etwa erst seit knapp sieben Jahren, ihr Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft! Wir haben eigentlich keine Ahnung, was das Internet an journalistischen Möglichkeiten in Zukunft noch alles bereithalten wird. Junge Menschen sind diejenigen, denen es obliegt, neue Ausdrucks- und Vermittlungsformen selbst zu entwickeln und auszuprobieren. Wir müssen also Lehre mit Pioniergeist verbinden und darüber grübeln, wie sich der Journalismus neu erfinden könnte.

Mitchell Stephens, geboren 1949 in New York City, lehrt als Professor für Journalismus und Massenkommunikation an der New York University. Stephens ist außerdem Publizist und historischer Berater des "Newseums". Zu seinen bekanntesten Büchern über Journalismus und Medien zählen "A History of News" (1988), ein Klassiker der amerikanischen Kommunikationsforschung, und "The Rise of the Image, the Fall of the World" (1998). Sein nächstes Buch "Without Gods: Toward a History of Disbelief" befasst sich mit der Geschichte des Atheismus. Stephens schreibt regelmäßig journalistische Artikel, unter anderem für die New York Times, das Los Angeles Times Magazin, Journalism Quaterly, Chicago Tribune und die Washington Post.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: