Zukunft der Krise:Böse Sterne

Die Voraussagen über den weiteren Verlauf der Wirtschaftskrise haben bestenfalls den Charakter von Ratschlägen. Schlechterenfalls aber handelt es sich um modernisierte Astrologie.

Thomas Steinfeld

Neulich, der Deutsche Aktienindex ("Dax") war nach langer, langer Zeit wieder einmal jenseits der 6000 Punkte angelangt, ging eine erstaunliche Nachricht durch die Wirtschaftsmeldungen. Die "Kleinanleger", wer immer das sein mag, hätten den Aufschwung der Börsen "verschlafen". Erstaunlich war diese Nachricht vor allem, weil wenige Tage zuvor an denselben Stellen und im selben Ton noch verkündet worden war, die gegenwärtige Wirtschaftskrise werde voraussichtlich die Form eines "W" annehmen, also einem zweiten Tiefpunkt entgegengehen. Aber auch das "L" sei als Gestalt der ökonomischen Entwicklung nicht auszuschließen. Tatsächlich werden die "Kleinanleger" also hellwach und voller Sorge die Kommentare der Wirtschaftsexperten gelesen haben, um sich schließlich, nach langer, zittriger Selbstbefragung zu entschließen, zunächst einmal nichts zu tun - um sich dann, wenige Tage später, von denselben Figuren verhöhnt zu sehen, denen sie gerade noch Vertrauen geschenkt hatten.

Zukunft der Krise: Bulle und Bär vor der Daxtafel. Viele Menschen spekulieren, wie die zukünftige ökonomische Entwicklung aussehen wird.

Bulle und Bär vor der Daxtafel. Viele Menschen spekulieren, wie die zukünftige ökonomische Entwicklung aussehen wird.

(Foto: Foto: ap)

Was lehrt das? Zum einen, dass der Spekulant nicht nur die Börse beherrscht, sondern auch das Nachdenken über die Börse. Dabei tut er, was er immer zu tun trachtet: nämlich auf einen Fortgang der Dinge zu spekulieren, den er in Gestalt seiner Spekulationen selbst hervorbringen will - um dann, vor allen anderen, selbstverständlich, das nächste Neue zu produzieren. Zum anderen aber, dass sich am überlegenen Selbstbewusstsein der Ökonomen auch dann nichts ändert, wenn sie vom Lauf der Dinge nunmehr beinahe täglich eines Besseren belehrt werden. Und zum dritten: dass eben dieser Lauf der Dinge in den vergangenen Jahren so unüberschaubar, so unvorhersehbar geworden ist, dass man sich - außer auf die offenbar institutionell gesicherte Arroganz der Ökonomen - auf nichts mehr verlassen kann.

Der Berliner Literaturwissenschaftler Joseph Vogl hat in seinem Aufsatz "Die voranlaufende Verpfändung der Zeit", einem für diese Zeitung geschrieben Essay (17. Oktober 2009) erklärt, woran das liegt: Die Finanzwirtschaft habe ihr Prinzip, mit nur erst versprochenen oder erwarteten Erträgen, Wertentwicklungen und Finanzierungslücken zu handeln, also mit dem Morgen ihr Geschäft zu machen, nunmehr so weit vorangetrieben, das sich die Ungewissheit dieser Zukunft potenziert habe. Und zwar dadurch, dass diese Ungewissheit zunehmend in die Gegenwart zurückwirke, ja deren Verlauf bestimme.

Denn hatten "sich moderne Vorsorgegesellschaften einmal über die Verwandlung von Gefahren in Risiken und über die Bändigung des Zufalls formiert, so ist nun das Zufällige, die Gefahr, ein ungebändigter Ereignissturm in die Mitte der Gesellschaft zurückgekehrt". Anders gesagt: die Zukunft, in der jede Spekulation zu Hause sein muss, ist, nachdem sie sich lange immer weiter in die Zukunft ausgedehnt hatte, ist in der Zeit zurückgewandert und hat die Gegenwart unterhöhlt. Dass man nicht weiß und nicht wissen kann, welchen Wert eine Sache oder eine Handlung in Zukunft haben wird - dieses Risiko ist zur Ungewissheit darüber geworden, welchen Wert eine Sache oder Handlung in der Gegenwart besitzt. Der Schein, es gebe ein zumindest halbwegs nachvollziehbares Verhältnis zwischen dem Wert und dem Preis einer Ware, ist damit als Illusion enttarnt.

Was bleibt dann aber vom alten Glauben, das eigensinnige, auch irrationale Verhalten von einzelnen, jeweils souverän agierenden Menschen bringe, wie durch eine unsichtbare Hand geführt, die Rationalität eines ökonomischen Systems hervor? Offenbar gar nichts, weshalb die Voraussagen über den weiteren Verlauf der Wirtschaftskrise bestenfalls den Charakter von Ratschlägen besitzen - weil der Ratschlag ja keine Gewähr kennt und deshalb die gewöhnliche Form des Umgangs mit unbeherrschten oder gar unbegriffenen Gewalten ist. Schlechterenfalls aber fallen diese Voraussagen in den Bereich einer modernisierten Astrologie, deren Technik Joseph Vogl als "effizient chaotisch", "allwissend ignorant" und "regelhaft aleatorisch" beschreibt. Wenn die Unternehmensberatung Roland Berger in einer in diesen Tagen erschienenen Broschüre über "Innovation in der Krise" eine "Philosophie der Herausforderung" durch systematische Provokation fordert, ist damit genau diese Art von weltlicher Astrologie gemeint.

Lesen Sie auf Seite 2, warum der Kern der Krise systematisch verfehlt wird.

Kein Ende in Sicht?

Was aber geschieht nun mit den Menschen, die mit einer solchermaßen der radikalen Ungewissheit ausgesetzten Wirtschaft umgehen müssen - und dabei nicht nur die Erfahrung machen müssen, dass der Lebensunterhalt eine unsichere Angelegenheit ist (das wissen sie sowieso), sondern auch, alles Geldwerte, das sie zu besitzen glauben, von der Wohnung bis zur Lebensversicherung, im Zweifelsfall längst schon Derivat einer globalen Schuldenwirtschaft ist, über deren Fortgang an ganz anderer Stelle entschieden wird? Vom modernen Glauben an den Einzelnen als Souverän, an das freie Subjekt, das sich seine Lebensumstände schafft, kann da nicht viel übrigbleiben.

Im Gegenteil, die Schicksalsgemeinschaft tritt an die Stelle der Willensgemeinschaft, und wenn auch jeder hofft, halbwegs ungeschoren durch die Krise zu kommen, so ist doch sicher, dass es dabei ohne ein hohes Maß an allgemeiner Entwertung von Arbeitskraft und Besitz nicht abgehen wird - und das um so mehr, als die Krise ja totalen Charakter besitzt, also keine Ausnahmen und, sollte Joseph Vogl recht behalten, zumindest bis auf weiteres kein Ende kennt. Denn wo wäre das Fundament, von dem aus neue Gewissheit zu gewinnen wäre?

In welchem Maße die Vorstellung von der Schicksalgemeinschaft schon um sich gegriffen hat, lässt sich daran erkennen, dass allen Versuchen, es in Gestalt von Kritik, also theoretisch mit der Krise aufzunehmen, so wenig Widerhall beschieden ist. Alle Aufklärung stößt bislang auf taube Ohren.

Statt dessen wird ausgerechnet, dass die 150 Milliarden Dollar, die bisher von der amerikanischen Regierung zur Bekämpfung der Krise ausgegeben wurden, einer Investition von über 200000 Dollar pro gerettetem Arbeitsplatz entsprechen - ganz so, als ginge es bei dem vielen Geld um Arbeitsplätze und nicht um die gesellschaftliche Zahlungsfähigkeit im allgemeinen und die Wiederherstellung der Kreditwirtschaft im besonderen. Statt dessen wird, von den deutschen Bischöfen über die Wirtschaftsethiker bis hin zu selbst konservativen Politikern, eine moralische Kapitalismuskritik betrieben, die den Kern der Krise systematisch verfehlt: Gewiss, Manager wollen sich bereichern - die zeitgenössische Scholastik aber, die moderne Wirtschaftsführer wie die Wucherer des Mittelalters aussehen lässt, verwandelt den systemischen Charakter der Krise in einen persönlichen. An die Gier glauben aber heißt: von allen sachlichen Gründen absehen wollen.

Selbst die sonderbare Debatte, die in den vergangenen Wochen dem Philosophen Peter Sloterdijk und seinem Widerwillen gegen den Sozialstaat galt, zielt weniger auf das Umlageprinzip der allgemeinen Wohlfahrt als auf den Zwang, kein Mitglied der Gesellschaft auslassen zu können und jeden gleichermaßen in die Pflicht nehmen zu müssen. Wenn Peter Sloterdijk dagegen den "Bürgerstolz" empfiehlt, so wehrt er sich gegen die Gemeinschaft und ihr Schicksal setzt dagegen den Anachronismus des freien, souveränen Menschen - bei dessen endgültiger Beseitigung die Wirtschaftskrise indessen ungleich effizienter vorangeht, als das Arbeitslosengeld und Rentenversicherung je vermöchten.

Dabei hätte der selbstbestimmte Mensch im gegenwärtigen Weltzustand eine echte Chance, wenngleich vermutlich eher im Bösen: Denn wenn sich in dieser Wirtschaftskrise manifestiert, in welchem Maße die rationale Unvernunft selbst in den letzten Winkel der Gegenwart eingezogen ist, dann wäre dies eine Situation, in der vermeintlich längst überwundene Figuren der Souveränität zurückkehren könnten: Putschisten des Wirtschaftslebens. "Ungewissheit fällt Entscheidungen, die in ihrer Ungebundenheit schicksalhaft werden", heißt es bei Joseph Vogl. Und ist es nicht ein kühner Streich, wie die neue Bundesregierung, während sie in Schulden versinkt, eine Senkung der Steuern verspricht?

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