Zielgruppe Senioren:Hurra, sie leben noch

Ältere Menschen bilden die gefragteste Zielgruppe im Medienmarkt. Es gibt nur ein Problem: Ihr Konsumverhalten.

Viola Schenz

Marktstrategisch gesehen sind sie ein Phänomen. Sie schaffen es, dauernd und überall im Mittelpunkt zu stehen - ohne eigenes Zutun, ohne irgendwelche Anstrengung, sondern nur weil es so viele von ihnen gibt und es nicht mehr lange dauert, bis sie die Bevölkerungsmehrheit stellen.

Zielgruppe Senioren: Begehrte Zielgruppe - nur leider wollen viele Senioren gar keine Zielgruppe sein

Begehrte Zielgruppe - nur leider wollen viele Senioren gar keine Zielgruppe sein

(Foto: Foto: dpa)

Die Senioren führen in Deutschland Regie. Sie lösen Renten- und Gerechtigkeitsdebatten aus, ihretwegen finden Kongresse statt ("66 - Deutschlands größte Messe für alle ab 50"), Unternehmen bauen Werkbänke und Schreibtische um, damit Menschen mit altersbedingten Zipperlein an ihnen arbeiten können, Radiosender spielen das "Beste der Sechziger und Siebziger" rauf und runter, vor heute oder der Tagesschau läuft Werbung für Gelenksalben oder Gedächtnispillen. Udo Lindenberg singt neuerdings "Der Greis ist heiß", die Bild-Zeitung titelt: "Die Alten übernehmen die Macht".

Nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. Das macht sie interessant für die Werbeindustrie. Die gibt derzeit eine Studie nach der anderen in Auftrag, wohl kaum eine Bevölkerungsgruppe ist so gefragt bei Demoskopen. Über Senioren scheint man mittlerweile alles zu wissen: Was sie essen, wie sie einkaufen, wie sie denken und kommunizieren, wie genussfreudig sie sind, womit sie ihre viele Freizeit verbringen.

Wer interessant für die Werbeindustrie ist, ist automatisch interessant für die Medien. Der Bauer Verlag etwa, dessen bunte Blättchen (Das neue Blatt, Neue Post) bei klatsch-affinen, betagten Damen sehr beliebt sind, will mehr über seine Leser erfahren. Diesen April hatte er ein Best Age Symposium abgehalten.

Marketingstrategen stellten dort allerlei Trends vor, kreierten viele englische Neologismen, die wohl klingen und wenig aussagen (Silver Market, Silver Surfer, Maintainer, Master Consumer, Simplifier) und einigermaßen unsensationelle Erkenntnisse: Die "neuen Alten" unterscheiden sich in ihrem Kaufverhalten kaum von den jungen Konsumenten. Nie war Älterwerden schöner, nie waren mehr Chancen und Möglichkeiten damit verbunden. Und: Senioren wollen alles, nur nicht als alt gelten.

Das ist es, was Medienmacher verzweifeln lässt: Wie spricht man eine Zielgruppe an, die nicht diese Zielgruppe sein will? Nur wenige haben das bisher geschafft: Brigitte Woman (Gruner + Jahr, Auflage: 285543) etwa hat sich seit 2005 als Zeitschrift für die reifere Frau auf dem Markt etabliert. Bisher aber wagen sich die großen Verlage noch nicht wirklich an die Alten heran, in Zeiten rückläufiger Auflagen ist man vorsichtig mit neuen Produkten - zu riskant, zu teuer.

Und: Trotz aller neuen Erkenntnisse über Senioren, trotz der demografischen Entwicklung sind es nach wie vor die notorischen "14- bis 49-Jährigen", die mit ihrem Konsumverhalten als werbe-, quoten- und medienrelevant gelten.

Zeitschriften für ältere Leser entstehen daher vor allem am Rand des Medienbetriebs. Kleine und kleinste Verlage bringen sie raus, nennen sie Indian Summer, Treffpunkt 55 plus, Lenz oder Best Life. Oft mit Menschen auf dem Cover, die wie 30 aussehen, allenfalls ein paar Lachfältchen haben; optisch wagt man selbst hier nicht allzu viel. Inhaltlich wirken manche arg amateurhaft, manche wie Anzeigenblättchen.

Hurra, sie leben noch

Der Verlag ProScript mit Sitz in Hannover hat da Ehrgeizigeres im Sinn. ProScript, ursprünglich eine Werbeagentur, hat über Jahre Marketingdaten zu "Best Agern" sammeln lassen. Die nutzt Verlagsleiter Heiko Heine nun für sein Magazin invivo (zu deutsch: Mitten im Leben), mit dem - nicht ganz logischen - Untertitel "Selektiv. Neugierig. Vielfältig".

Im Visier hat Heine, 56, die kultiviert-interessiert-wohlhabenden Leser zwischen 50 und 65, die im Speckgürtel der Großstädte in freistehenden Einfamilienhäusern wohnen, die gerne schick essen gehen und zu spontanen Kurzreisen aufbrechen. Wohl selten ist vor der Einführung einer Zeitschrift die Zielgruppe so durchleuchtet worden. ProScript basiert seine Erkenntnisse auf der "größten deutschen Marktanalyse und Konsumentenbefragung".

"Wir wollen nicht über Krankheiten schreiben

Heine und seine Mitarbeiter wissen Namen und Adressen einer "Fernzielgruppe" aus 480000 potenziellen Abonnenten: Welchen Joghurt sie kaufen, welche Autos sie fahren, welche Terrassenmöbel sie bevorzugen. Jeder Stasi-Offizier würde neidisch werden. Die Erkenntnisse helfen bei der Anzeigenacquise. Je klarer das Leserprofil, desto besser lassen sich Anzeigen verkaufen - Anzeigen mit Prestige. Solche für Designersofas und teure "pro-age"-Hautcremes, auf keinen Fall welche für Treppenlifte. Alt dürfen sie sein, die Leser, aber bitte schön nicht gebrechlich. "Wir wollen nicht über Krankheiten schreiben", sagt Chefredakteurin Bianka Oehler, 31.

Jeweils 80.000 Haushalte der "Fernzielgruppe" bekommen alle zwei Monate ein invivo zugeschickt - kostenlos und mit der Hoffnung, dass aus überraschten Erstkunden Abonnenten werden. Hier sucht sich nicht der Leser die Zeitschrift, sondern die Zeitschrift den Leser. Die restlichen 20.000 Hefte einer Auflage liegen für sechs Euro an - ausgewählten - Bahnhöfen und Flughäfen aus.

Die Anzeigen- und Vertriebsfrage wären also geklärt. Doch was wollen invivo-Leser lesen? Was interessiert Senioren, die keine sein wollen, die Gewohntes beibehalten wollen, allerdings mehr Zeit dafür haben? Mit der Suche nach passenden Inhalten tut man sich offenbar schwer bei invivo.

Das aktuelle Heft macht auf mit einem Portrait von Hillary Clinton, 60, Präsidentschaftskandidatin der Demokraten, übernommen aus einer März-Ausgabe der taz. Ein politisches Magazin? Nein, über Politik schreibe man nicht, sondern "über Politiker", über "die Personen hinter dem Produkt, hinter der Nachricht", sagt Chefredakteurin Oehler. Also ein Portraitmagazin? Ja, irgendwie schon, aber auch wieder nicht.

Hier eine Reportage aus Kirgisistan, da das Portrait einer Spitzenköchin aus Luxemburg oder einer Designerin aus dem Allgäu. Texte, die betuchte Ältere interessieren könnten oder auch Jüngere, oder auch nicht. Invivo ist vor allem eines: beliebig. Der amerikanische Architekt I.M. Pei wird drei Seiten lang beschrieben. Pei hat in jüngster Zeit aber nichts gebaut, und der Autor hat ihn offensichtlich auch nie getroffen, jeder Lexikon-Eintrag über den 90-Jährigen liest sich spannender. Warum also Pei? "Weil er noch lebt", nennt die Chefredakteurin allen Ernstes als Grund.

Die Zeitschrift Best Life, die sich an reifere Herren wendete, lebt nicht mehr. Nach drei Jahren stellt der Verlag Rodale-Motor-Presse (Men's Health, Runner's World) das zwei-monatlich erscheinende Magazin Ende April ein. "Wir konnten unsere selbstgesteckten hohen Ziele nicht nachhaltig erreichen", begründete Verlagsleiter Henry Allgaier seine Entscheidung. Vielleicht liegt der Misserfolg auch darin, dass reifere Menschen nicht mit einem Magazin für reifere Menschen gesehen werden wollen. Oder weil sie das, was sie interessiert, auch und vor allem besser in herkömmlichen Zeitschriften und Zeitungen lesen können.

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