Zeitgeschichte:Vergangenheitsbeschleunigung

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Haus der Geschichte in Bonn

Ein Flüchtlingsboot aus dem Mittelmeer ragt in die jüngste deutsche Geschichte hinein – als letztes Exponat der neu gemachten Dauerausstellung.

(Foto: Jennifer Zumbusch/Haus der Kulturen Bonn)

Im Haus der Geschichte in Bonn bekommen die Ära Merkel und die Migrationsdebatte einen Platz im Museum.

Von Johan Schloemann

Es war einmal üblich, "die Geschichte" frühestens eine Generation zuvor beginnen zu lassen. Oder enden zu lassen, je nachdem, in welche zeitliche Richtung der Historiker gerade guckt. Nach dem Zweiten Weltkrieg zum Beispiel überließ man zunächst lieber den Politologen oder Journalisten die Aufarbeitung des Nationalsozialismus - die Zuständigkeit der Zeitgeschichte musste erst sehr beherzt hergestellt werden, auch als Teil der Erziehung zur Demokratie. Und im 19. Jahrhundert hieß "deutsche Geschichte" noch in erster Linie: die Erforschung des Alten Reichs.

Man hielt also einen Puffer zwischen Gegenwart und Vergangenheit für nötig. Das hat nicht etwa nur mit Verdrängung zu tun, sondern auch mit der Vorstellung, dass alles, was uns zu nah vor der Nase steht, noch schwer zu verstehen, zu ordnen, zu historisieren sei. Das stimmt zwar weiterhin. Aber vielen Historikern ist erfreulicherweise aufgefallen: Nur weil etwas schwerer ist, heißt das nicht, dass man es nicht trotzdem versuchen kann. So werden im kommenden Jahr nicht nur weitere Bücher, Filme, Ausstellungen über das Ende des Ersten Weltkriegs und die Räterevolution vor 100 Jahren oder über den Beginn des Dreißigjährigen Kriegs vor 400 Jahren herauskommen, sondern auch eine große Studie über zehn Jahre Finanzkrise ("Crashed") des in Yale lehrenden Historikers Adam Tooze - ein Fall von vielen.

Wie sehr aber soll man zur allgemeinen Historisierungsbeschleunigung beitragen? Einer Bewegung, die ja nicht nur die Forschung, sondern, so scheint es, die gesamte Populärkultur erfasst hat - Stichwort Nullerjahre-Party? Ein Museum wie das Haus der Geschichte in Bonn hat da gar nicht die Wahl. Es kann keinen Puffer einbauen. Es soll für ein maximal breites Publikum von der Bundesrepublik seit 1945 bis kurz vor der Gegenwart erzählen.

Wenn man aber, wie es in Bonn gemacht wird, streng chronologisch vorgeht, muss der letzte Teil natürlich immer wieder erneuert werden, mit ständigen, nie ganz lösbaren Problemen: Man kann oft nicht eindeutig bestimmen, was schon Musealisierung verdient. Die Aufnahme von diesem und jenem in ein gesamtstaatlich finanziertes Geschichtsmuseum wird aber, bei aller Aufklärung, digitalen Zugänglichkeit und Ent-Auratisierung, immer noch als eine Kanonisierung, als ein offizieller Ritterschlag empfunden. Das, was zeitlich am nächsten steht, schauen die Besucher außerdem mit den letzten Kräften an, weil sie am Ende einer großen Ausstellung dahin gelangt sind. Und, noch ein Problem: Seltsamerweise sieht besonders die jüngste Vergangenheit im Museum besonders schnell alt aus. Ein bisschen wie die Nachrichten von letzter Woche auf einer Internetseite.

All dem stellt sich die Neupräsentation der Zeit seit dem Mauerfall, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kürzlich eröffnet hat. Als das Museum in Bonn im Jahr 1994 startete - damals noch nahe dem Bundeskanzleramt, fünf Jahre vor dem Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin -, da reichte die Ausstellung vom Gestühl des alten Bonner Plenarsaals bis hin zum damals meistbeachteten Exponat: der XXL-Strickjacke, in welcher der seinerzeitige Bundeskanzler Helmut Kohl im Juli 1990 den Sowjetführer Michail Gorbatschow von der Wiedervereinigung überzeugt haben soll. Seither wurde ein paarmal umgebaut, renoviert, Kohls Strickjacke ist auch noch da - aber jetzt, 2017, endet die Ausstellung mit einer Paket-Drohne, mit einem künstlich intelligenten Roboter des Fraunhofer-Instituts, der die Besucher anquatscht, und mit einem Flüchtlingsboot aus dem Mittelmeer.

Von Helmut Kohls Strickjacke zu Drohnen und Payback-Karten - kann das ein Narrativ sein?

Dieses Flüchtlingsboot hat der Kardinal Rainer Maria Woelki im vergangenen Jahr vor dem Kölner Dom als Altar verwendet und dem Museum überlassen. Nun ragt es, von benutzten Rettungswesten von der griechischen Insel Lesbos umgeben, als letztes Ausstellungsstück in die jüngste deutsche Geschichte hinein. Und zwar mit dem Bug zurück in die Zeit gerichtet, als würde das Schicksal der Migranten das ganze deutsche Staatsschiff, von dem die Ausstellung seit 1945 berichtet hatte, frontal herausfordern. Der letzte Raum handelt denn auch von den "gewaltigen Herausforderungen" der Migration, und "Willkommenskultur" und "Hass und Gewalt" streiten sich zum Schluss, wer von beiden (nur) ins Museum gehört. Auch die Gebetskette eines NSU-Opfers ist ausgestellt, und die "Wir sind das Volk!"-Rufe von der friedlichen DDR-Revolution 1989 sind kaum verhallt, bis sie bei Pegida wiederkehren.

Besucher, die in der Migration nicht den entscheidenden Fluchtpunkt der deutschen Geschichte sehen wollen, werden sich damit schwertun, aber das ist gewollt. Aber auch sie müssten den Grundgedanken in den neuen Räumen anerkennen, dass sich Deutschland seit 1990 nur noch im Rahmen internationaler Entwicklungen beschreiben lässt. Deshalb stehen ein Stahlträger aus dem World Trade Center und der Berliner Breitscheidplatz für die Ankunft des islamistischen Terrors. Deshalb werden Digitalisierung, Überwachung und Globalisierung mit Objekten und Fotos visualisiert, wenn auch angesichts der Größe dieser Themen ein bisschen arg putzig und miniaturhaft, etwa mit einer Payback-Karte, die nicht allzu viel dämonische Kraft entfaltet. Und deshalb kommt auch die Entwicklung der EU vor, das existenziell wichtige Langweilerthema, von der Euro-Einführung bis zum Brexit-Referendum.

Trotzdem sind auch rein nationale Kleinodien zu sehen, Trabis, Mauerstücke und zwei wichtige Spickzettel: derjenige des DDR-Funktionärs Günter Schabowski für die Pressekonferenz, die 1989 unfreiwillig die deutsch-deutsche Grenze öffnete (das Museum hat das Original vor zwei Jahren angekauft); und ein Faksimile des Spickzettels von Nationaltorwart Jens Lehmann für das Elfmeterschießen im Fußball-WM-Viertelfinale 2006. Auch schwierigere Themen wie Treuhandanstalt oder Hartz IV werden nicht gescheut.

Ein heiß ersehntes "Narrativ" entsteht daraus nicht. Dass sich die Ära Merkel (noch?) nicht auf einen prägnanten Begriff bringen lässt, ist indes kaum der Ausstellung anzulasten. Ein anderer Effekt aber ist auffällig: Während einst manche das "Haus der Geschichte", parallel zur Gründung des Deutschen Historischen Museums in Berlin, als Ausdruck einer größenwahnsinnigen nationalen Geschichtspolitik unter Helmut Kohl sahen, verströmt es heute eher noch den Geist der Bescheidenheit der alten Bonner Republik.

Unsere Geschichte. Deutschland seit 1945. Dauerausstellung, Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn. Info: www.hdg.de

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