Zeitgeist:Wie schrecklich muss die Gegenwart sein

Zu wenig Platz für Probleme: Die Serie "Travelers".

Seit drei Monaten sind dank Netflix die "Travelers" unter uns, Zeitreisende, die aus der Zukunft in unsere Gegenwart kommen und sich in Menschen inkorporieren, die gerade sterben.

(Foto: Jeff Weddell/Netflix)

Ob Globalisierung, Entzauberung der Welt oder düstere Zukunftsprognosen: In neuen Büchern, Filmen und Serien wandert die Menschheit gerade aus der Gegenwart aus.

Von Alex Rühle

Liegt es an den beeindruckend düsteren Zukunftsaussichten? Ist die dreidimensionale Welt so extrem zusammengeschrumpft, dass nirgends mehr echte Abenteuer und fremde Welten auf uns warten? Oder gibt es ein drängenderes Bedürfnis als früher, die Geschichte doch bitte so umzuformen, dass der gegenwärtige Schlamassel in Richtung Schlaraffel umgeschrieben werden kann? Wie auch immer - 2016 hat eine kollektive imaginäre Auswanderungswelle stattgefunden. Nicht in andere Kontinente oder Breiten, sondern entlang des Zeitstrahls. Hauptsache weg aus der Gegenwart, in eine ferne Zukunft oder irgendwelche Kapitel der (meist amerikanischen) Vergangenheit.

Ja, es sind momentan so viele Serienhelden in diversen Vergangenheiten unterwegs, es gibt gleichzeitig dermaßen viele Besucher aus künftigen Zeiten, dass Netflix und die anderen Studios mal überlegen sollten, ob sie nicht irgendwo auf der Zeitachse Raststätten einrichten. In diesen Times Squares oder Stundenhotels könnten sich all die Frequent Travellers austauschen über den Schmetterlingseffekt, die besten Wurmlöcher und die schönsten Epochen, in die sich eine Reise lohnt.

Was neue Serien eint: Die Zeitreise wird nicht groß erklärt, sie ist einfach da

Seit drei Monaten sind dank Netflix die "Travelers" unter uns, Zeitreisende, die aus der Zukunft in unsere Gegenwart kommen, sich in Menschen inkorporieren, die gerade sterben, und in dieser fremden Hülle versuchen, unsere Zeit zu manipulieren, um eine spätere Apokalypse abzuwenden. Ungefähr zur gleichen Zeit startete auf NBC die Serie "Timeless", die Stippvisiten in verschiedenen Epochen der amerikanischen Geschichte unternimmt. Es gibt da diesen ehemaligen CIA-Agenten, der böse wurde und den Prototypen einer Zeitmaschine gestohlen hat. Jetzt fährt er kreuz und quer in der Zeit herum, um die amerikanische Geschichte grundlegend zu verändern. Ein Techniker, ein Soldat und eine Geschichtslehrerin jagen ihm in einem zweiten Prototypen hinterher.

Die drei hätten sich im dritten Teil der Serie, der 1962 spielt, mal umschauen können, ob ihnen Jake Epping über den Weg läuft, die Hauptfigur der Serie "11/22/63", die auf dem gleichnamigen Roman von Stephen King basiert: Ein Geschichtslehrer findet heraus, dass es in seinem Lieblings-Diner ein Wurmloch gibt, durch das er in das Jahr 1960 reisen kann. Er versucht nun, Harvey Oswald in der Zeit vor dem Kennedy-Attentat zu finden und so die Ermordung des Präsidenten zu verhindern.

Um einen ähnlichen Eingriff in die Geschichte geht es in der Serie "Frequency", die in den USA fast gleichzeitig mit "Travelers" und "Timeless" anlief: Darin entdeckt eine New Yorker Polizistin, dass sie über ein altes Radio mit ihrem toten Vater in Kontakt treten kann, der ebenfalls Polizist war. Die beiden versuchen, quer durch die Zeit gemeinsam einem Mörder das Handwerk zu legen. Da die Tochter aber auch im Nachhinein das Leben ihres Vaters rettet, verursacht sie genauso komplexe Kettenreaktionen, wie sie Jake Epping auslösen würde, wenn er tatsächlich Kennedys Ermordung verhindern könnte.

Man könnte ewig so weitermachen: Der wackere Doktor Who, der jede Woche in seiner telefonzellenartigen TARDIS-Kiste für die BBC quer durch Zeit und Raum rauscht; die Netflix-Mystery-Serien "Stranger Things" und "The OA", die beide mit dem Raumzeitkonzept und der Möglichkeit von alternativen Zeitsträngen oder Paralleluniversen spielen. Und ab Februar versuchen zwei Historiker in der Serie "Making History" Zeitreise und Comedy miteinander zu verquicken: Ein Professor erfindet mithilfe einer Sporttasche eine Zeitmaschine, die ihn und seinen schwarzen Kollegen ins Massachusetts von 1775 bringt. Eigentlich wollen sie dort nur ein paar Kleinigkeiten ändern, um ihr heutiges Leben zu verbessern. Dann aber beginnt einer der beiden eine Affäre mit der Tochter des Freiheitskämpfers Paul Revere. Und es ist verblüffend zu sehen, dass anscheinend schon die Kneipenbesucher des 18. Jahrhunderts unseren schnellen Sitcomhumor hatten.

Gedankenspiele von subversiver Kraft

All diese Serien und Filme eint, dass sie auf die eine oder andere Weise mit dem sogenannten Großvaterparadox klarkommen müssen: Ein Zeitreisender, der seinen Großvater in jungen Jahren umbringt, verhindert, dass wiederum sein Vater gezeugt werden konnte, und löscht damit die eigene Existenz. Allgemeiner gesprochen: Alle Veränderungen, die ein Zeitreisender in der Vergangenheit vornimmt, haben Auswirkungen auf die Gegenwart. Der in Vorzeiten von einem Zeittouristen zertretene Schmetterling, der im Nachhinein den Lauf der Weltgeschichte verändert ...

Was für eine subversive Kraft solche Gedankenspiele der Geschichtsmanipulation haben können, zeigt die Tatsache, dass die staatliche chinesische Presse- und Rundfunkbehörde, die oberste Zensurbehörde des Landes, 2011 per Dekret alle Plots mit Zeitreisen verboten hat. Begründung: Sie erzeugen Mythen, haben verrückte Plots, benutzen absurde Techniken, um die Zeit zu überlisten, "und propagieren teilweise sogar Feudalismus, Aberglaube, Fatalismus und Wiedergeburtstheorien." Mit anderen Worten: Es gibt nur eine Partei. Und eine Geschichte. Punkt.

Keine Zeit für Erklärungen

Noch etwas eint die erwähnten Serien: Die jeweilige Technik der Zeitreise wird nie groß erklärt. Ist einfach so. Ein Wurmloch? Okay, wo geht's da hin? Schließlich haben sich die Zuschauer längst daran gewöhnt, dass in der Fiktion Reisen durch die vierte Dimension genauso möglich sind wie eine Fahrt von A nach B. Ja, eigentlich ist das Konzept der Zeitreise so allgegenwärtig, dass man sich gar nicht vorstellen kann, dass es gerade mal 120 Jahre alt ist: Es wurde 1895 erfunden von H. G. Wells. Natürlich hatte es vorher schon die Idee gegeben, dass jemand zu einem anderen Zeitpunkt wieder aufwacht, es gab "Chrononauten", Wiedergeburtsmythen, Unsterblichkeitskonzepte.

Was es aber bis dahin nicht gab, das war eine Maschine, die einen durch die Zeit transportiert. Und was es nicht gab, war die dazugehörende räumliche Vorstellung der Zeit als Raum, den man mit einem Gefährt durchqueren kann, so wie es der namenlose Held aus Wells' "Time Machine" macht, der gleich mal 800 000 Jahre in die Zukunft reist, wo er eine Zivilisation vorfindet, die eine Mischung aus britischer Ständegesellschaft und Herr-der-Ringe-Wesen ist.

James Gleick hat dieser Erzählung und Wells' Leistung, ein eigenes Genre erfunden zu haben, ein sehr schönes Buch gewidmet, das, passend zum seriellen Zeitreisefieber, soeben in den USA erschienen ist (Time Travel. A History. Pantheon Books. 336 Seiten, 26,95 Dollar). Der Wissenschaftsjournalist untersucht darin die physikalischen Aspekte, philosophischen Paradoxien und literarischen Untergenres der Zeitreisen. Fast am interessantesten ist seine Erklärung, warum es vor Wells keinem anderen Literaten eingefallen ist, seinen Helden durch die Zeit wie durch einen Raum zu schicken.

Das zyklische Denken musste erst abgelöst werden, um Helden durch die Zeit zu schicken

Im Lauf des 19. Jahrhunderts änderte sich aus vielerlei Gründen unser Verhältnis zur Zeit. Die Naturwissenschaftler entdeckten, dass die Erde weit älter war als bisher angenommen. Aus 6000 biblischen wurden 4 000 000 000 geologische Jahre, die Menschheitsgeschichte schrumpfte zu einem kurzen Abschnitt auf einem riesigen Zeitpfeil. Zum anderen wurden mit der Industrialisierung und fortschreitender Ingenieurskunst die Unterschiede zwischen urbanen Regionen und bäuerlich-ländlichem Alltag so groß, dass man auf jeder Bahnfahrt plötzlich durch unterschiedliche Epochen zu fahren schien. Außerdem synchronisierten sich die Uhren: Für uns sind die gestundete Zeit und die Aufteilung des Tages in 24 Zonen völlig evident; es "gibt" diese Zonen aber erst seit 120 Jahren, seit es nämlich nötig wurde, für Eisenbahnfahrpläne immer größere, einheitliche Zeitabschnitte festzulegen.

Vor allem aber ist unsere Vorstellung von einer irreversiblen Zeit, die sich, einem Pfeil gleich, so gleichmäßig wie unerbittlich in die Zukunft bewegt, ein relativ junges Konzept (der Begriff des "Zeitpfeils" wurde auch erst 1927 vom Physiker Arthur Eddington geprägt). Erst musste das zyklische, jahres- und naturzeitliche Denken abgelöst werden, damit H. G. Wells seinen Abenteurer überhaupt durch eine Zeit schicken konnte, die man sich ähnlich strukturiert vorstellen konnte wie den Raum.

Morgen früh wird der Autor dieser Zeilen seinen eigenen Text lesen, und es wird ihn bitter reuen, dass er das Theaterstück "Harry Potter und das verwunschene Kind" mit keinem Wort erwähnt hat, obwohl es darin im Kern um eine Zeitreise geht. Und in den deutschen Kinos sind mit "Arrival" doch gerade 12 Raumschiffe eingetroffen nebst siebenbeinigen Außerirdischen, die ein nonlineares Zeitempfinden haben und deshalb jetzt schon wissen, dass sie in 3000 Jahren dringend unsere Hilfe brauchen werden. Ich bräsiger Dödel, das hätte doch auch in einen solchen Text reingemusst. Zu spät. Dafür wurde mit diesem letzten Absatz bewiesen, dass es eben doch möglich ist, vom donnerstäglichen Frühstückstisch aus einen am Mittwoch verfassten Artikel zu ergänzen. Zeitungszeitreisenzauber!

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