Mülheimer Theatertage:Die Firma dankt

Von der Angst, überflüssig zu sein: Die meisten Stücke der Mülheimer Theatertage, wo an diesem Dienstag der "Dramatiker des Jahres" gewählt wird, handeln von den perekären Verhältnissen der Arbeitswelt. Das Gegenwartsdrama wird wieder politischer - das tut ihm gut.

Christine Dössel

Wie geht es eigentlich dem zeitgenössischen deutschsprachigen Drama? Existiert es noch - oder hat man es zu Tode gefördert in all den Autorenwerkstätten, Stückemärkten und Dramatiker-Workshops, in denen es in den letzten zehn, fünfzehn Jahren wie ein Pflegenotstandsfall gehätschelt, gepampert und für eine jeweils schnelle Uraufführung hochgezüchtet wurde? Hat es noch einen Wert aus sich heraus, eine Bedeutung, einen Bestand? Oder wurde es längst niedergewalzt von der zunehmenden Flut der Roman- und Filmadaptionen, mit welchen Theaterregisseure sich inzwischen sehr viel freier, ungezwungener, spielerischer auf der Bühne bewegen (wollen) und aus dem Vollen eines epischen Erzählens schöpfen (können)?

Mülheimer Theatertage: Szene aus dem Stück "Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung" von Kevin Rittberger: Menschliche Dramen, die sich täglich an der Grenze zwischen Afrika und der Festung Europa abspielen.

Szene aus dem Stück "Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung" von Kevin Rittberger: Menschliche Dramen, die sich täglich an der Grenze zwischen Afrika und der Festung Europa abspielen.

(Foto: Alexi Pelekanos)

Hat es noch etwas zu sagen und zu wagen - oder trägt gerade das Zeit- oder (Eintagsfliegen-)Problemstück mit seinem Mangel an tragischer Größe zum Bedeutungsverlust des Theaters im 21. Jahrhundert bei? Von der Frage, wo der Goethe, Kleist oder Schiller unserer Tage bleibt, mal ganz abgesehen.

Wer etwas erfahren will über den Zustand des deutschsprachigen Gegenwartsdramas, der muss nach Mülheim schauen, wo derzeit, wie jedes Jahr Ende Mai / Anfang Juni, das Festival "Stücke" über die Bühne geht - jene Mülheimer Theatertage, in denen die nach Ansicht einer Auswahljury jeweils sieben besten uraufgeführten Stücke eines Jahres gezeigt werden, damit eine gesonderte Jury am Ende (das heißt: am Dienstagabend) in öffentlicher, live im Internet übertragener Diskussion den "Dramatiker / die Dramatikerin des Jahres" bestimmt.

Als Mitglied im Auswahlgremium für dieses Festival kämpft man sich alljährlich durch die Schwemme neuer deutschsprachiger Dramenliteratur ebenso wie durch die von allen Seiten immer wieder kritisch an einen herangetragenen Fragen und Klagen bezüglich der "Welthaltigkeit" und Größe dieser Texte, welche man als Juror(in) letztlich einem einzigen vergleichenden Qualitätsmaßstab unterwerfen muss.

Inhalt, Sprache, Form spielen dabei eine wesentliche Rolle, die Frage nach universeller Gültigkeit oder Klassikerbefähigung eines Textes eher weniger. Dramen, das muss man so konstatieren, und wer mag, kann es bedauern, werden im 21. Jahrhundert nicht mehr von Originalgenies und Dichterfürsten für die Ewigkeit geschrieben.

Reißbrett-Herkunft

Die meisten Stücke nehmen ganz konkret Bezug auf das Hier und Jetzt, reiben sich an der Gegenwart, thematisieren die Konflikte und Komplexität der Zeit - und sind damit oft schon per se so schnelllebig wie diese. Ihren Gegenwartsbezug, verbunden mit einer gewissen Alltäglichkeit und einer zwangsläufig geringeren Haltbarkeitsdauer sollte man ihnen nicht von vornherein zum Vorwurf machen.

119 Stücke standen in diesem Jahr zur Auswahl - das waren schon einmal wesentlich mehr. Das Gros dieser Texte wirkt, als gebe es in den Studiengängen für Szenisches Schreiben ein Handbuch für zeitgeistkompatible Mainstream-Dramatik, das die Absolventen brav und handwerklich versiert, aber weitgehend unbehelligt von großer Lebens- oder Leidenserfahrung befolgen - von der Kleinfamilien- oder Vier-Personen-Idealszenerie mit knapp umrissenem Konfliktpotential bis hin zu der anfangs oft abstrakt oder kryptisch daherkommenden, sich dann aber zu einer klaren Problemaussage kristallisierenden Dialogstruktur aus kurzen, coolen, markant gesetzten Sätzen, denen man ihre Reißbrett-Herkunft leider sehr oft anmerkt.

Nirgends ein Deus ex Machina

Sehr beliebt - wenn auch mit keinem Beispiel in Mülheim vertreten - ist neuerdings wieder die erfolgserprobte Zwei-Pärchen-Konstellation aus Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?": Älteres, abgefucktes Ehepaar trifft auf jüngeres, idealistisches Paar, um unter beständiger Alkoholzufuhr in einem Schlagabtausch sämtliche Raffinessen des Seelenstriptease durchzuspielen.

Theresia Walser hat mit ihrem Mann Karl-Heinz Ott in "Die ganze Welt" ein Remake dieser Situation geschaffen, und sowohl Rebekka Kricheldorf als auch Roland Schimmelpfennig haben das Thema "Afrika" in einer solchen Gegensatzpaarkonstellation abgehandelt - sie in der auf einem afrikanischen Campingplatz spielenden Komödie "Robert Redfords Hände selig", er in dem gleich an drei großen Bühnen in Berlin, Hamburg und Wien gespielten Wohnzimmerdiskursdrama "Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes".

Überhaupt ist Afrika und das Verhältnis Europas zu dem schwarzen Kontinent ein neuer Themenschwerpunkt. Mehrere Autoren haben im zurückliegenden Jahr versucht, unsere Rat- und Hilflosigkeit im Umgang mit Afrika auszudrücken - womit in der oft so familien- und auf sich selbst bezogenen deutschsprachigen Dramatik wieder ein neues politisches Bewusstsein Einzug hält.

Kevin Rittberger, Jahrgang 1977, in Mülheim mit "Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung" vertreten, reflektiert in seiner Stückcollage die menschlichen Dramen, die sich täglich an der Grenze zwischen Afrika und der Festung Europa abspielen. Dabei erzählt er nicht nur vom Flüchtlingsschicksal einer jungen Nigerianerin, sondern er wechselt den Ton wie auch die Perspektive, lässt Medienvertreter, Dolmetscher und andere Beteiligte zu Wort kommen, sodass sich ein hochkompliziertes Geflecht aus Wünschen, Schuld und Verantwortung ergibt. Das Drama: ein Dilemma. Und nirgends ein Deus ex Machina.

Der andere politische Konfliktherd, der immer stärkeres Gewicht erlangt, ist der Komplex Migration / Integration. Er war in Mülheim durch "Verrücktes Blut" von Nurkan Erpulat und Jens Hillje vertreten, den Überraschungsknaller vom Ballhaus Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg. Eine Lehrerin wird darin zur Bildungsterroristin und zwingt ihrer Problemtürken-Klasse mit vorgehaltener Pistole Schiller auf.

Am Puls der Zeit hantieren

Gewiss kein Text mit Klassikerpotential, aber gerade die erfrischende Diskurs- und Durchschlagskraft dieser allseits gefeierten Produktion - herausgekommen im Herbst 2010 als immer noch treffsicherster Kommentar zur Sarrazin-Debatte - zeigt, was Dramatik eben auch leisten kann und muss: ganz direkt und frech auf Gegenwart reagieren, am Puls der Zeit hantieren.

Der Zug ins Politische tut der zeitgenössischen Dramatik gut, er führt sie raus aus der Befindlichkeitsfalle und ist tendenziell auch dort auszumachen, wo es nicht explizit um globale oder interkulturelle Konflikte geht, sondern um jenen privat-öffentlichen Bereich, aus dem im Mülheim-Jahrgang 2011 die meisten Dramen ihre Themen schöpfen: aus der Arbeitswelt. Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg, die Anpassung des flexiblen Menschen an die Ökonomie, die Auswirkung von Finanz- und globalen Krisen auf das eigene Auskommen - das sind zentrale Themen.

Entschleunigung des Uraufführungsbetriebs

Da ist zum Beispiel Adam Krusenstern, Mitte 40, leitender Angestellter, Protagonist in Lutz Hübners Stück "Die Firma dankt": ein typischer Vertreter der Arbeitswelt des 20. Jahrhunderts. 19 Jahre bei der Firma, diese mit hochgebracht, immer für seinen Job gelebt. Und nun sitzt er da auf diesem weichen Ledersofa, im Gästehaus des Unternehmens, und weiß nicht, wie ihm geschieht.

Die Firma wurde übernommen, ein Jungstar der New Economy hat jetzt das Sagen, und der betrachtet Krusenstern wie ein seltsames Fossil aus der Vergangenheit, als es noch so etwas wie "Firmenkultur" gab. Was Krusenstern an diesem Wochenende durchmacht, ist ein Horrortrip - und vielleicht, so suggeriert es das Drama, auch nur ein Albtraum.

Aber es erzählt sehr anschaulich vom Grundtenor der Stückauswahl für diese 36. Mülheimer Theatertage: von der Brüchigkeit heutiger Arbeits- und damit auch Lebensverhältnisse, vom Anpassungsdruck und der damit verbundenen Angst. Es ist dies nicht nur eine ökonomische Angst, es ist auch eine existenzielle: die Angst, ausrangiert, nichts mehr wert, überflüssig zu sein. Vier der sieben Stücke handeln dezidiert von solchen Ängsten und prekären Arbeitsverhältnissen. Neben Hübners "Die Firma dankt" gehört dazu "Warteraum Zukunft" von Oliver Kluck. Der Autor beschreibt darin mit viel Hirnwut den Tag eines Angestellten - oder besser: eines Angepassten - aus der Thirty-Something-Generation.

Felicia Zellers hysterische Haushaltskomödie "Gespräche mit Astronauten" führt geradewegs in die Keimzelle der westlichen Arbeitswelt: in den Familienbetrieb, wo berufstätige deutsche Mütter osteuropäische Au-pairs als Billiglohnkräfte ausbeuten. Und

Fritz Katers breit angelegtes Gesellschaftspanorama "we are blood" erzählt vom Aderlass einer Gegend nach Wegzug der Ökonomie. Nur Elfriede Jelinek, eingeladen mit ihrer "Winterreise", ragt mal wieder solitär - aber natürlich nicht unpolitisch - aus dem Spektrum heraus. Sie bildet ohnehin seit jeher in Mülheim ihr eigenes Genre.

Entschleunigung des Uraufführungsbetriebs

Wer auch immer aus dieser Runde Dramatiker des Jahres wird: Eine zeitlose Gültigkeit des betreffenden Textes in seiner ganz konkreten Welthaltigkeit wird man ihm oder ihr nicht abverlangen können. Der übliche Verdacht, die Orientierung an der Aktualität bedeute Ex-und Hopp-Dramatik, die nach der Uraufführung sofort wieder in der Versenkung verschwindet, greift hier allerdings nicht.

Nahezu alle sieben Stücke sind bereits nachgespielt worden. Das zeugt von einer gewissen Entschleunigung des meist so heißlaufenden Uraufführungsbetriebs - und von einem momentan ganz guten Klima für die deutsche Gegenwartsdramatik.

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