Würdigung:Was die Soziologie Ulrich Beck zu verdanken hat

Am 15. Mai 2014 wurde der Soziologe und Kosmopolit Ulrich Beck 70 Jahre alt. Anlässlich seines Geburtstags erschien diese Würdigung seines Kollegen Armin Nassehi in der Süddeutschen Zeitung. Zur Erinnerung an Becks Verdienst um die Disziplin der Soziologie in Deutschland veröffentlichen wir den Text noch einmal.

Von Armin Nassehi

Ohne Zweifel ist Ulrich Beck seit vielen Jahren der meistzitierte und bekannteste Soziologe, und das weit über Deutschland und weit über den akademischen Bereich hinaus. Dem in Hannover aufgewachsenen, nach Professuren in Münster und Bamberg 1992 an die LMU München berufenen Soziologen ist es gelungen, mit seinen jeweiligen Themen den Nerv der Zeit zu treffen.

Das gilt für mindestens drei Gebiete: Kurz bevor Beck 1986 seine zum Bestseller gewordene Studie "Risikogesellschaft" publiziert hat, ist der Reaktorunfall im ukrainischen Tschernobyl passiert. Sie bildete den basso continuo der nachfolgenden Diskussion um großtechnische Risiken. Seine ebenfalls in den 1980er-Jahren entstandene Theorie der Individualisierung traf auf ein Milieu, das sich einerseits den starren Regeln und Erwartungen früherer Generationen entziehen konnte, zugleich aber die Widerständigkeit der Gesellschaft erlebt hat - Menschen in individualisierten Lebenslagen sind paradoxerweise gezwungen, sich frei zu entscheiden. Schließlich gilt es für Becks derzeitiges Forschungsgebiet: Es behandelt sowohl die kosmopolitische Öffnung der Begriffe der Soziologie als auch die Frage nach der Lösbarkeit transnationaler Herausforderungen. Damit berührt es die Selbsterfahrungen einer Generation, deren Leben internationaler geworden ist und die nicht mehr an die Autonomie nationalstaatlicher Lösungspotenziale glaubt.

Der Autor

Armin Nassehi, Jahrgang 1960, ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Herausgeber der Zeitschrift Kursbuch. Zehn Jahre lang arbeitete Nassehi, der sich vor allem mit der soziologischen Theorienlehre beschäftigt, als unmittelbarer Kollege mit Ulrich Beck zusammen.

Becks Themen waren stets Themen, die von seinen Lesern verstanden werden konnten - nicht darum, weil es so viele soziologische Leser gäbe, sondern weil seine ganze Denkungsart an den Lebenserfahrungen für eine gebildete, postmaterialistische Mittelschicht orientiert war. Deren Lebenslage hat sich immer stärker an Selbsterfahrung und an den reflexiven Formen eines Verhältnisses zu sich selbst ausgerichtet. Für dieses, man kann es so sagen, rot-grüne Milieu hat Beck Chiffren der Selbstbeschreibung geliefert: ein Leben zu führen, das sich vor allem an den richtigen Einstellungen und Motiven bemisst.

Beck war nie unumstritten und ist es bis heute nicht - doch manche Kritik war wirklich ungerecht und unseriös. Was hat man Beck nicht alles vorgeworfen! Als habe er eine maschinenstürmende Technikkritik vorgelegt, als habe er Individualisierung als Ideologie des Individualismus vertreten, als sei sein Kosmopolitismus bloß ein naiver Internationalismus. Es war bewundernswert, wie Ulrich Beck diese Kritiken ausgehalten hat, auch wenn er sich zu Recht missverstanden fühlte.

Anschlussfähig an die Erfahrungswelt der Mittelschicht

Aber, das soll nicht verschwiegen werden, dass es diese Lesefehler gegeben hat, ist keineswegs nur ein Zufall. Becks Stärke ist wirklich, an die Erfahrungswelt eines bestimmten Milieus anzuschließen, die Arbeit am Begriff ist es nicht. Wiewohl er der Zunft vorwirft, mit "Zombie-Begriffen" zu arbeiten, ist er eine begriffliche Ausarbeitung seiner Soziologie letztlich schuldig geblieben - und vielleicht ist diese Soziologie darum aufs Ganze gesehen in den vergangenen Jahren eher politisch als soziologisch geworden.

Beck glaubt an das gute Motiv, er glaubt daran, dass uns letztlich nur die richtigen Einstellungen fehlen. Wer Becks Appelle an und für Europa liest, muss auch feststellen, dass der bloße Appell an die richtige Einstellung letztlich nur eine sehr milieugebundene Form des guten Lebens erreicht. Vielleicht unterschätzt man die Strukturprobleme Europas, die Eigendynamik von Gesellschaften und ihrer kybernetischen Wechselwirkungen, wenn man sie mit Mitteln der richtigen Einstellung für heilbar hält.

Dass Beck den Kosmopolitismus in der Soziologie stark macht, ist ihm hoch anzurechnen. Und dass die Soziologie den Gesellschaftsbegriff zu eng an die Nation bindet, ist eine sehr treffende Kritik - aber Becks Erstaunen über die ganz anderen Welten und ihren Eigensinn ist vielleicht auch ein Zeichen dafür, wie stark die Erfahrungen der Soziologie doch in einem sehr europäischen Kontext gebildeter Träger moralischer Ansprüche geformt wurden. Anders als andere freilich hat Beck dies offensiv aufgenommen. Selbst wenn man nicht allem folgt - eine großartige Leistung ist es allemal.

Zum Schluss ein persönliches Wort: Ich habe Beck über ein Jahrzehnt hinweg als unmittelbaren Kollegen erlebt - er verkörperte bis zu seiner Emeritierung 2009 irgendwie den Geist des Instituts als eine integrative Kraft und als humorvoller Meister des Ausgleichs. Die Soziologie im Ganzen hat ihm viel zu verdanken, die deutsche allemal, ebenso das Münchner Institut für Soziologie und ich selbst auch. Ulrich Beck wird am Donnerstag 70 Jahre alt, und er forscht weiter an einem groß angelegten EU-Projekt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: