Wozu noch Journalisten?:Verborgene Scheußlichkeiten

Ja, wozu Journalisten? Vielleicht ist die Antwort gar nicht so schwer: Journalisten sollen zu jenen Geschichten führen, die heute und morgen Fragen aufwerfen.

Frank Keil

"Wozu noch Journalisten?", lautete die "Preisfrage" des Schreibwettbewerbs der Hamburger Akademie für Publizistik. 44 Autoren sandten Beiträge ein, wir dokumentieren die Artikel der drei Preisträger. Die Preise waren mit 2000, 1000 und 500 Euro dotiert. Platz drei ging an den Hamburger Frank Keil und sein Plädoyer für einen parteiischen Journalismus.

Wozu noch Journalisten?: Zwei Jugendliche auf einer Parkbank in Wien: Das nicht Hinnehmbare ist die Quelle eines jeden dauerhaften Berichtes.

Zwei Jugendliche auf einer Parkbank in Wien: Das nicht Hinnehmbare ist die Quelle eines jeden dauerhaften Berichtes.

(Foto: Foto: oH)

Wenn Frau R. weinen muss, hält sie sich schützend die Hand vor die Augen; und zwar so, dass die Hand einen gewissen Abstand zum Gesicht hält, gut Luft dazwischen passt, ich habe das bisher noch nie bei jemanden so gesehen. Herr H. dagegen wischt sich seine Tränen trotzig mit dem Handrücken seiner linken Hand weg, greift dann wieder zum Tabakbeutel, dreht sich wortlos eine Zigarette, auch wenn sich dort schon ein gutes Dutzend Zigaretten versammelt hat.

Ist er fast fertig, zieht er den Rotz hoch und murmelt: "Diese Dreckschweine; ich werd' sie zur Verantwortung ziehen." Frau M. wiederum habe ich noch nie weinen sehen, sie hätte genauso allen Grund dafür, manchmal war es kurz davor, was daran zu merken war, wie sie abrupt aufstand, mit schnellen Schritten in die Küche ging, um neuen Kaffee zu holen, der dort auf der Wärmeplatte steht.

Und ich? Ich sitze dann da, atme ganz normal ein und aus und gebe mir alle Mühe mich jetzt nicht in mitfühlende Worte zu flüchten, sondern einfach still sitzen zu bleiben, bis Frau M., bis Herr H. und bis Frau R. den Faden wieder aufnehmen, zu einer meist tonlosen Stimme zurück finden, während vor ihnen die rote Lampe meines Aufnahmegerätes verlässlich leuchtet, damit ich später die leisen Schluchzer, das kurze Nase-Hochziehen und das glucksige Eingießen des Kaffees abhören kann, in meinem Büro mit Blick auf halb Hamburg: vom Türmchen des Rathauses und weiter zum Michel bis rüber zum Hafen mit seinen Containerkränen; das nur mal so, um den Kontrast zu beschreiben, wenn ich von Frau M., Herrn H. und Frau R. zurückkehre, die in absolut schmucklosen Wohnblocks wohnen, mit Fahrstühlen, die sich ratternd in Bewegung setzen und bei denen es mich nicht im geringsten wundern würde, wenn sie im nächsten Moment hängen bleiben würden, mit erloschenem Licht.

Wozu Journalisten? Frau M. und Herr H. und auch Frau R. hätten darauf eine glasklare Antwort: Damit ihnen diese helfen. Damit sie sich ihrer annehmen und ihnen zuhören und sie beim Reden nicht gleich unterbrechen und wieder alles besser wissen, also: was zu tun wäre. Damit am Ende schwarz auf weiß zu lesen ist, wie man ihnen mitgespielt hat, was sich nun hoffentlich ändert, wo ihre Geschichten in der Welt sind, lesbar für alle; damit also das aufhört, was sie so quält, ein Leben lang. Vielleicht nicht auf einen Schlag, aber langsam, Stück für Stück; Absatz für Absatz, sozusagen.

Frau R. kommt ursprünglich aus Bayern, sie lebt dort recht glücklich in einer Pflegefamilie, bis es der leiblichen Mutter von einem Tag auf den anderen einfällt, sie wieder zu sich zu holen. Als erstes müssen ihre langen Haare ab, auf die sie so stolz ist, und sie hält es dort exakt bis zu ihrem 18. Geburtstag aus, sie zieht nach Hamburg, sie schafft es nicht Fuß zu fassen. Sie landete in St. Georg auf dem Straßenstrich, und es gibt wohl keine Scheußlichkeit, die sie in ihren mittlerweile 50 Lebensjahren nicht erlebt hat. Heute ist sie HIV-positiv, in ihrem Bücherregal über ihrem Lesesessel sind auffallend viele Titel zum Thema 'Tod' aufgereiht und Ausdruck ihrer Sehnsucht nach ein klein wenig Geborgenheit ist ein schief gehängtes Poster im Flur zwischen Haustür und Wohnzimmer von einem Mädchen mit Strohhut, das in einer blechernen Mülltonnen steht, keck den Deckel lüftet und fröhlich in die Welt schaut.

Herr H. wiederum wurde statt in eine weiterführende Schule von seiner Mutter beim Jugendamt abgegeben, ins nächste Heim verfrachtet, dann ins übernächste Heim weitergereicht und dann ins darauf Folgende, nie sagt ihm jemand, warum und wieso das alles geschieht und so haut er immer wieder ab, steht bei der Mutter, die ihn nicht haben will, unvermittelt vor der Tür, um bald den Weg zu gehen, der für ihn vorgezeichnet zu sein scheint: normales Heim, geschlossenes Heim, bald Jugendstrafanstalt, am Ende der normale Knast und manchmal zwischendurch die Psychiatrie.

Frau M. ihrerseits hat während einer tiefen Krise dem Jugendamt zugestimmt, dass ihre zwei kleineren Kinder woanders untergebracht werden sollen, erst für ein halbes Jahr, aus dem flugs ein ganzes Jahr wurde, das sich demnächst zum zweiten Mal jährt. Sie hat kaum Chancen, dass sie ihre Kinder zurückbekommt, eine Hilfsschülerin, die dennoch den Hauptschulabschluss geschafft hat (um auch mal etwas Positives zu erwähnen) und die immer wieder unter lauter Akademikern sitzt, die fortlaufend neue Ziele und Ansprüche und Standards formulieren, gegen die sie manchmal wütend anbrüllt, was ihre allerletzten, längst minimalen Chancen mindert, mal wieder ein halbwegs normales Familienleben zu führen.

Ja, wozu Journalisten? Vielleicht ist die Antwort gar nicht so schwierig: Weil Frau M., weil Herr H. und weil Frau R. unter uns leben und weil ihre Lebensläufe und -weisen im Detail wie im Ganzen nicht hinnehmbar sind, und das nicht Hinnehmbare die Quelle eines jeden dauerhaften Berichtes ist. Weil schon unser Versuch zu schildern und wiederzugeben, was die drei jeweils für sich erlebt haben - mit allen Halb- und Unwahrheiten, selbstverständlich, mit denen ihre Erzählungen selbst getränkt sind - zu jenen Geschichten führen, die heute und morgen und auch noch übermorgen grundlegende Überlegungen und Fragen nach dem, was einst geschah und was daraus gefolgt ist und auch noch folgt, aufwerfen.

Da schwingt ein gewisses Pathos in Sachen Hilfe, Rettung oder wenigstens Welterkenntnis mit in der Luft? Aber klar doch - weil Journalismus und damit Journalisten ohne ein gewisses Pathos, ohne mit einer gewissen Dosis der Parteilichkeit und des Engagement ausgestattet bei aller Pflicht zur angemessenen Distanz nun mal nicht auskommen, wollen sie nicht blutleer und schematisch daherkommen. Was zu beweisen war.

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