Wimmelbuch-Zeichner:"Mir kommt es nicht auf die heile Welt an"

Kinderbuchautor Ali Mitgutsch wird 80

Kinderbuchautor Ali Mitgutsch wird 80 Jahre alt. Generationen von Kindern sind mit seinen "Wimmelbilderbüchern" groß geworden.

(Foto: Rolf Vennenbernd/dpa)

Illustrator Ali Mitgutsch wird 80 - und erzählt vom Ursprung der Wimmelbilder, warum die Kavaliersperspektive wichtig ist und wie er als junger Künstler lebte.

Interview von Roswitha Budeus-Budde

Es ist dieses dröhnende Lachen, das vergessen lässt, dass da ein zerbrechlich wirkender alter Herr in seinem Flur inmitten seiner künstlerischen Objekte sitzt und sich königlich über die Geschichte amüsiert, die ihm gerade erzählt wird. Wie die junge Buchhändlerin an der Kasse auf die Frage, ob sie Ali Mitgutsch kennt, mit einem Nein antwortet, auf "Rundherum in meiner Stadt" schaut und sagt, "Doch, das habe ich immer bei meiner Oma angeschaut". Die ältere Kollegin wusste aber, dass sich seine Titel am besten von allen Wimmelbilderbüchern verkaufen. "Wir hatten gerade eine Aktion, er wird ja 70." Nun bedauert Ali Mitgutsch es aber gar nicht, dass er 80 wird und erinnert sich, assistiert von seinem Freund und Berater Ingmar Gregorzewski, mit dem er gerade zusammen seine Kindheitserinnerungen "Herzanzünder" veröffentlich hat, an sein Leben als Illustrator.

SZ: Wer hat den Begriff Wimmelbilderbücher erfunden - das sind doch lauter Szenen in Ihren Büchern.

Ali Mitgutsch: Ja, ich finde ihn auch falsch, wimmeln hat für mich eher die Assoziation von abwimmeln. Aber wir fanden keinen anderen, gescheiteren, der Verlag auch nicht, und plötzlich war das Wimmelbuch in aller Munde.

Also müssen Sie damit leben?

Ja mit meinen Büchern lässt es sich gut leben. (Großes Gelächter)

Mit dem Erfolg, der Jugendliteraturpreis 1969 für "Rundherum in meiner Stadt", kam auch gleich die Kritik, schließlich war es die Zeit der antiautoritären Kinderliteratur.

Ja, die Reaktionen auf meine Bücher waren im Anfang immer negativ. Ich würde die schöne heile Welt zeigen, das war damals das stehende Wort. Das hat mich geärgert. Aber ich habe meine Bücher nicht geändert. Habe immer gekämpft, und gesagt, mir kommt es nicht auf die heile Welt an, sondern auf die heilbare, und dabei bin ich auch geblieben.

Großen Ärger bekamen Sie auch mit den "Pimmelzählerinnen", wie eine Gruppe von emanzipatorischen Literaturwissenschaftlerinnen genannt wurde, die beklagten, dass zu wenig Mädchen in Ihren Büchern vorkamen.

Dabei war das auf meinen Bildern damals gar nicht so zu trennen. Die Mädchen hatten genau so lange Haare wie die Jungen.

Aber Sie haben dann doch in den nächsten Büchern etwas mehr Zöpfe oder Pferdeschwänze gemalt.

Ja, wenn ich gerade Lust hatte, habe ich ein bisschen so was dazugemalt.

Es gibt ja auch immer wieder Szenen, in denen Jungen pieseln. Aber es gibt kein entsprechendes Bild von Mädchen.

Doch, das gibt's, ich weiß nur nicht mehr in welchem Buch.

Wie haben Sie gearbeitet?

Zuerst mit kleinen Zeichenblöcken, darin habe ich mir alles notiert, meine Ideen und auch die Gags, die fallen einem ja nicht immer ein, wenn man sich hinsetzt und sagt, so, jetzt mache ich ein Bilderbuch. Beim Zeichnen habe ich die Kavaliersperspektive genutzt. Im Unterschied zur Fluchtperspektive, bei der alles auf die Spitze zuläuft, schaut man hier von oben auf das Bild. Der Begriff kommt von Chevalier, das war der, der zu Pferde saß und den Überblick hatte. Wichtig ist auch, dass die Figuren in den Szenen am Anfang noch nicht so individualisiert sind. In diesem Zustand treibe ich sie mit einem ganz weichen Bleistift im Kreis herum, vier-, fünfmal auf dem Blatt. Die Dynamik der Bewegung, der Gesichtsausdruck, die entwickle ich zum Schluss. Das Besondere sind Mimik und Gestik. Und die Bewegung, alles ist in Bewegung.

Bekommen Sie die Aufforderung, Ihre Bilderbücher digitalisieren zu lassen?

Schon, aber da bin ich absolut dagegen, weil ich der Meinung bin, dass meine Bücher einen bestimmten Charakter haben. Sie fordern eine bestimmte Pädagogik. Und dazu gehört nicht, dass man den Kindern eine Elektronik bietet, irgendwelche Joysticks. Sie wollen nur noch etwas drücken und das ist was, gegen das ich kämpfe. Doch es gibt zwei Ali-Mitgutsch-Apps, bei denen wir sehr darauf geachtet haben, dass die Logik erhalten bleibt. Die funktionieren so, dass das Kind die elektronische Kamera nimmt und ein Motiv sucht, es fotografiert und dann ablegt. Doch bei vielen Apps zu Büchern funktionieren die Geschichten nicht mehr. Für mich sind das die Apps, die von "Veräppeln" kommen.

In Ihren Erinnerungen schreiben Sie "ohne Angst keine Fantasie". Was wären Sie ohne Ihre bedrückenden Kindheitserlebnisse von Krieg und Evakuierung geworden?

Vielleicht Architekt, das habe ich nie zu Ende gedacht. Ich hatte schon ständig Ideen, was ich werden könnte oder was ich machen wollte. Ich war schon ständig in Bewegung innerlich.

Und auch äußerlich waren Sie später sehr in Bewegung.

Mit 14 bin ich allein an die Nordsee gefahren, im Kommunionsanzug, der mir noch passte, mit einem Pappkoffer. Ich war einfach wahnsinnig neugierig. Die Frauen bei uns zu Hause, die Mutter und die Schwestern, die schlugen immer die Hände über dem Kopf zusammen, um Gottes willen, du kannst doch jetzt nicht wegfahren, allein. Der Vater hatte immer sehr viel Verständnis für meine Reiselust, auch später. Es waren Fluchten, um aus dem Alltag herauszukommen, der für mich damals schon oft sehr erdrückend war. Meine Frau später, die hat es gewusst, die hat mich nämlich als Fahrenden kennengelernt, und ich muss ehrlich sagen, manchmal war es sehr gefährlich, und ich hatte, als meine drei Kinder klein waren, manchmal den Albtraum, dass sie dasselbe machen wie ich.

Sind Sie wirklich ein Produkt weiblicher Zuneigung, wie Sie schreiben?

Das stimmt, das ist eine Grundsatzerklärung von mir ans Leben. Von vornherein war mir klar, dass die Frauen in meiner Familie Entscheidendes in meiner Entwicklung vorangetrieben haben, und es ist ein Loblied auf meine Frauen.

Und wovon haben Sie auf diesen langen Reisen gelebt?

Grabsteine vergoldet, Speisekarten gemalt, alles getan, was mit Kunst zu tun hatte und was Normale nicht machen, manchmal auch eigene Skizzen verkauft. Damals in meiner Jugend war das so, dass wir als Maler eine absolute Seltenheit waren.

Fühlen Sie sich in Ihrer Kunst bestätigt durch die vielen Nachfolger und darin, dass Sie eine Bilderbuchsparte gegründet haben? Wie lebt es sich mit dem Ruhm? Irgendwie befinden Sie sich ja schon im Bilderbuchhimmel.

(Großes Gelächter) Ich fühle mich bestätigt durch meine Arbeit, das ist doch eigentlich das Schönste, das man sagen kann. Es ist kein Ende abzusehen. Ali Mitgutsch, abgelegt unter W wie Wimmelbilderbücher.

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