Wikipedia-Kompilationen:"Bullshit, amen, okay"

Fehlkauf mit System: Immer mehr aus Wikipedia-Artikeln kopierte Bücher finden sich in Uni-Bibliotheken. Die "Enttarnung" gestaltet sich schwierig.

Corinna Nohn

Das muss eine knackige Zusammenfassung sein: Auf nur 109 Seiten beschreibt das Buch History of the English fiscal system die Genese des englischen Finanzwesens, geht dabei laut Untertitel sowohl auf die Eroberung Englands durch die Normannen im elften Jahrhundert als auch auf Entwicklungen im 20. Jahrhundert ein. Der Preis für das Buch rangiert bei Amazon zwischen 42,09 und 94,05 Euro.

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Wo das Wissen wohnt: In Universitätsbibliotheken schleicht sich immer mehr Halbwissen. 

(Foto: dpa)

Man könnte die Inhalte allerdings auch kostenlos im Internet nachlesen, denn History of the English fiscal system ist nichts mehr als eine Zusammenstellung von Wikipedia-Artikeln. Wem es auf das Haptische abkommt, könnte sich die Seiten auch bei Pedia Press, einem Anbieter von "Books on demand" ("Bücher auf Bestallung"), für etwa zehn Euro ausdrucken und binden lassen. Oder, noch günstiger: das Buch in der Bibliothek der Humboldt-Universität Berlin ausleihen.

Seit einigen Monaten werden solche Wikipedia-Kompilationen, die ohne Lektorat entstehen und erst nach Bestellung gedruckt werden, bei Amazon angeboten. Mittlerweile haben sie es auch in die Regale deutscher Universitäten geschafft. Wer den Karlsruher Virtuellen Katalog, eine Meta-Suchmaschine für den Bestand öffentlicher und wissenschaftlicher Bibliotheken, durchsucht, findet Hunderte von Titeln auf Wikipedia-Basis. Die meist englischsprachigen, von Books Llc und der Saarbrücker VDM-Gruppe (Doyen Verlag, Fastbook, Alpha- und Betascript Publishing und weitere) vertriebenen Abhandlungen stehen in Universitätsbibliotheken von Konstanz bis Münster, finden sich in der Deutschen Sporthochschule Köln, in der Münchner Staatsbibliothek und im Goethe-Instituts in Johannesburg. Die meisten wurden in diesem Jahr erworben.

Abgesehen von der Debatte um urheberrechtlichen Fragen, die Autoren und Anhänger von Wikipedia auf der Wiki-eigenen Diskussionsplattform "Kurier" austragen: Wieso stellen sich Bibliotheken solchen Unsinn ins Regal? Zum Beispiel das Werk, das in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek in Hannover auszuleihen ist und die ganze Bandbreite englischsprachiger Flüche und Exklamationen abzudecken scheint: Interjections: eh, bullshit, amen, damnation, okay, shit, fuck, bullocks, minced oaths in literature, minced oath, man, bugger, d'oh! Die Niedersächsische Landesbibliothek zählt auch den Nachlass Leibniz' und wertvolle Handschriften aus dem achten Jahrhundert zu ihrem Bestand, die wissenschaftliche Aufarbeitung englischer Flüche gehört nicht zu den Sammelgebieten.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Institute Wikipedia-Kopien erwerben.

Billig gemacht und schlecht geklebt

Trotzdem ist die billig gemachte, schlecht geklebte Wikipedia-Kopie in den Bestand der Niedersächsischen Landesbibliothek gelangt - auf Wunsch eines Nutzers, wie Sprecherin Marita Simon auf Anfrage der SZ recherchiert hat. "Ich bin entsetzt, dass wir so ein offensichtlich überflüssiges Buch gekauft haben", sagt sie. Es kann kein Trost sein, dass die Leibniz-Bibliothek nicht alleine ist und die meisten Häuser den Wünschen ihrer Nutzer ohne tiefergehende Prüfung folgen, sofern der Titel nicht obszön oder nationalsozialistisch klingt und das Buch erschwinglich ist.

Welche Gründe gibt es noch, dass Institute die Wikipedia-Kopien erwerben? In Einzelfällen könnte es sich um Pflichtexemplare handel, denn jeder (Selbst-)Verlag muss Belegexemplare eines in Deutschland publizierten Buches an bestimmte Bibliotheken auf Landes- und Bundesebene abgeben. Da aber Books Llc in Tennessee druckt und die meisten VDM-Verlagstöchter ihren offiziellen Sitz auf Mauritius haben, ist das Pflichtexemplar vielleicht der Ausnahme-, aber keineswegs der Regelfall.

Möglichkeit drei: Das Buch fällt, dem Titel nach, in das Sondersammelgebiet einer Bibliothek. Allerdings kaufen die Institute nicht blindlings alles, was zu ihrem Thema publiziert wird, sondern ziehen Experten zu Rate und beschäftigen Fachreferenten. Bei der Masse an Büchern, die weltweit publiziert wird, liegt allerdings auf der Hand, dass die Fachreferenten vieles nur oberflächlich prüfen.

Man muss den Bibliotheken zugute halten, dass die Titel, zumal in Englisch, oft vielversprechend wirken und aus der Beschreibung nicht unbedingt ersichtlich ist, dass es sich um Wikipedia-Inhalte handelt. "Erst, wenn man das Buch in der Hand hält, merkt man, was es wirklich ist", sagt Barbara Welge, Leiterin der Erwerbungsabteilung der UB Würzburg. Sie hat eine massenhafte Zunahme solcher Publikationen im Laufe des vergangenen Sommers beobachtet. "Mittlerweile achten wir bei den bekannten Verlagen genau darauf, was wir kaufen." Auch in der Bibliothek der Humboldt-Universität ist man laut Erwerbungsleiterin Katja Braschoß dazu übergegangen, Titel der VDM-Gruppe, deren "Praktiken bekannt" seien, "nur sehr verhalten, nach besonderer Prüfung" und, wenn möglich, zur Ansicht oder mit Rückgaberecht zu erwerben.

Noch fehlt die Sensibilität

So weit ist man andernorts noch nicht, bestätigt etwa Marita Simon von der Leibniz-Bibliothek: "Es muss unter den Fachreferenten und in den Bibliotheken erst mal eine Sensibilität dafür entstehen, dass es solche Bücher gibt." Und selbst diejenigen, die die Vorgänge schon länger beobachten, erleben böse Überraschungen: So hatte sich Professor Ulrich Johannes Schneider, Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig, schon vor Wochen negativ über "diese Geschäftemacherei" und die minderwertige Qualität der Publikationen von Books Llc geäußert - stellte aber nun auf Anfrage der SZ hin fest, dass auch sein Haus solche Bücher besitzt. Er ärgert sich über diese Fehlkäufe, gibt aber zu bedenken, dass sein Institut jährlich Zehntausende Bücher erwerbe. Sein Haus werde "ab sofort nichts mehr von diesem oder einem ähnlichen Pseudoverlag kaufen".

Doch die "Enttarnung" gestaltet sich schwierig: Alleine die VDM-Gruppe, die ihr Geschäft mit dem massenweisen Nachdruck von wissenschaftlichen Arbeiten begann und von der eine Bibliothekarin sagt, dass "ja bekannt ist, dass die viel Mist verkaufen", hat in den vergangenen zwei Jahren acht Tochterverlage gegründet, die sich zum Teil ausschließlich damit beschäftigen, Wikipedia-Kompilationen auf den Markt zu werfen. "Bei der Vielzahl der Imprints macht man die eine oder andere schlechte Erfahrung, bis ein solcher Verlag identifiziert ist", sagt Katja Braschoß von der Humboldt-Universität.

Nun mag die Ankündigung von VDM-Geschäftsführer Wolfgang Philipp Müller, die Verlagsgruppe wolle ihr Angebot an Wikipedia-Büchern von derzeit 350000 auf bis zu 60 Millionen Titel ausweiten, größenwahnsinnig anmuten. Aber offenbar hat die Gruppe, wo bislang niemand für eine Stellungnahme zu sprechen war, ihr Geschäftsmodell auf Basis von Wikipedia und "Book on demand" vollautomatisiert, gleiches gilt für den Konkurrenten Books Llc: Computer scannen Wikipedia nach Oberthemen, fassen Artikel einer Kategorie zu einem Buch zusammen, generieren ein Cover (eventuell mit einem so nichtssagenden wie ansprechenden Bild) und platzieren das Werk bei Internethändlern. Gedruckt wird es erst, sobald eine Bestellung eingeht. Nur ein solches Procedere kann erklären, warum bei Amazon zu jedem noch so ausgefallenen Thema Titel dieser Verlage aufpoppen.

Und was ist mit den Bibliothekstantiemen? Die kommerzielle Verwertung von Wikipedia-Inhalten ist laut Wikimedia Foundation erlaubt, sofern die entsprechende "Creative-Commons-Lizenz" abgedruckt und die Autoren der Artikel benannt werden (allerdings missachten die Verlage dieses Gebot oft). Darüber hinaus könnten Books Llc, Alphascript & Co. ihre fragwürdigen Publikationen aber auch bei der Verwertungsgesellschaft (VG) Wort anmelden.

Um an Ausschüttungen beteiligt zu werden, muss ein Buch an mindestens fünf Bibliotheksstandorten, die zu wenigstens zwei unterschiedlichen regionalen Verbundkatalogen gehören, ausleihbar sein. Oder der Verlag muss in anderer Weise nachweisen, dass das Buch "in angemessenem Umfang verbreitet ist", wie Christian Beyer, Jurist der VG Wort, erklärt. Beyer hält es für "eher unwahrscheinlich", dass die Wikipedia-Kopien diese Voraussetzung erfüllen könnten - auszuschließen ist es aber nicht.

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