Wiedergeburt im Online-Universum:Bis später, im zweiten Leben

Von grauer Maus zum Glamour-Girl, vom schüchternen Nerd zum Partyhengst - auf "Second Life" arbeiten mehr als 800.000 Menschen an ihrer neuen Persönlichkeit: der virtuellen. Alles ist möglich. Aber ist auch alles gut?

Tobias Moorstedt

Die "Insel der Orientierung" wirkt wie der zentrale Kultort einer durchgeknallten Sekte. Uniformierte Menschen laufen ziellos, stumm und mit ausdruckslosem Gesicht durch die Hügellandschaft. Ein paar Palmen stehen zwischen Holzbrücken, ansonsten bilden allein Sonne, Wind und der blaue Himmel, der am Horizont mit dem Meer verschmilzt, das Setting für die ersten Schritte der Neuankömmlinge.

"Wie komme ich hier weiter?", frage ich eine Frau, die an einem kleinen Fluss zwischen Weiden und Gräsern steht, und sich im Wasser betrachtet. Sie trägt japanische Tracht, Kabuki-Schminke im Gesicht. "Du bist neu hier", sagt sie, "das sieht man."

Jeans und Shirt, die Grundausstattung aller Figuren bei ihrer Ankunft, sind im Online-Universum "Second Life" das letzte Echo der echten Welt. Warum sollte man sich hier auch auf modische Basics beschränken, wenn, wie die japanische Dame meint, "doch alles möglich ist. Wie möchtest du aussehen?"

Erfinde Dich neu!

Mit: "Your World. Your Imagination" wirbt die Firma LindenLab für ihren Online-3-D-Spielplatz "Second Life", bei dem man seine selbst designte Spielfigur, in der Gamer-Sprache "Avatar" genannt, durch eine fotorealistische 3-D-Welt steuern, mit anderen Spielern interagieren und mit Werkzeugen Häuser und Gegenstände erschaffen kann. Lasse alles hinter Dir! Beginne ein neues Leben! Erfinde Dich neu! Auch das Marketing von LindenLab erinnert an das einer Sekte. Und schon im Titel steckt der Reinkarnationsgedanke.

"Metaversum" heißen Online-Welten wie "Second Life", "There" oder "Uru" in der Fachwelt. Den Begriff hat der Cyberpunk-Autor Neil Stephenson in seinem Roman "Snow Crash" geprägt, in dem die Menschen der gewalttätigen Realität entfliehen, um in einer Virtual-Reality-Version des Internets mit "ihren audiovisuellen Körpern auch nichts anderes zu machen, als im wirklichen Leben".

Das Ziel: Totale Freiheit

15 Jahre später scheint sich Stephensons Vision zu erfüllen. Die Metaversen unterscheiden sich von den herkömmlichen und ebenfalls sehr erfolgreichen Multiplayer-Online-Rollenspielen wie "World of Warcraft" dadurch, dass man hier keine Drachen töten oder Schätze bergen muss. Es genügt, einfach zu existieren, die Sinnstiftung übernimmt die Konsumkultur: Mach es dir gemütlich! Und: Verwirkliche dich selbst!

Im Kontrollfenster von "Second Life" findet sich der Befehl "Fly". Ich klicke darauf und schon erhebt sich meine Figur in die Luft. Fliegen und Beamen sind die Fortbewegungsmittel bei "Second Life". Einerseits ist das durch die ungeheure Größe der Spielwelt notwendig, andererseits ist das Fliegen auch eine passende Metapher für die angestrebte "totale Freiheit" der Spielerfahrung, eine Freiheit ohne die Einschränkungen der Realität: ohne ausgeschöpften Dispokredit, Tempolimit und Gesichtscheck an der Clubtüre.

Bis später, im zweiten Leben

800.000 Menschen "bewohnen" das derzeit größte Metaversum. Und die Mitgliederzahl wächst jeden Monat um 30 Prozent. Die Software ist kostenlos. Geld verdient LindenLab, in dem es virtuelle Grundstücke an die Nutzer verkauft. "Hier kann man sofort alles haben was man will", meinte LindenLab-Chef Philip Rosedale in einem Interview. "Die interessante Frage ist, was man als nächstes tut."

Befreit von Handlungsrationalität, dreht man erst einmal ein bisschen durch: ein Spaziergang in Disneyworld oder in Tokios Bandai-Bars ist nichts gegen den hyperaktiven Eklektizismus von "Second Life". Hier grenzen Wildwest-Städte an Suburb-Simulationen, postapokalyptische Metropolen an postmoderne Skulpturenparks.

Auf den Straßen ist das ganze Figuren-Arsenal einer Videothek unterwegs: vielarmige Aliens, Ballerinas, Vampire, Roboter, Science-Fiction-Katzen, Porno-Starlets, Action-Helden und Fashion-Kreaturen wie aus dem Zeichenblock von Gaultier. Mit den Mitspielern in Kontakt zu treten ist nicht schwer. "Hallo, was ist hier los", tippt man in ein Text-Feld. Dann erscheint der Satz in einer Sprechblase über dem Kopf der Spielfigur.

Freundliches Bad im Pixel-Pool

Durch Chat und Instant-Messaging ist die Fern-Kommunikation im elektronischen Raum alltäglich geworden, doch die 3-D-Welten stellen einen Evolutionssprung des Netz-Mediums als soziale Umwelt dar: Die Nutzer werden durch einen Körper statt einen Login-Namen dargestellt, simulierte Mimik ersetzt die Emoticons. Doch ergeben sich in der simulierten Welt reale Kontakte, oder verschwinden die Spieler hinter der Beliebigkeit von Rollen, Namen und Posen?

Soziale Netzwerke wie MySpace oder Friendster haben gezeigt, dass das Internet nicht nur eine Plattform für das Ausleben von Impulse und Phantasien ist, sondern dass die Nutzer durchaus am Aufbau langfristiger und tragfähiger Beziehungen interessiert sind. "Second Life" oder "There" kombinieren die Immersion in ein soziales Netzwerk mit dem Bad in einem Pixel-Pool und ermöglichen so, was Online-Freundschaften bislang fehlte: gemeinsame Erfahrungen.

Irgendwann hält ein Ferrari neben meiner Spielfigur. "Willst du mitfahren", fragt der Fahrer. Ich steige ein und fahre mit dem Fremden, der das Auto von New York oder Bangkok aus steuert, auf einer Insel herum. Keine Ahnung wohin.

Liegestuhl mit Raketendüsen

"In Second Life kann man alles bauen", heißt es in der Werbung. Im so genannten Sandkasten-Areal probiere ich es aus, male mit der Maus einen Kreis in den Sand, schaffe die Grundform, die ich nun mit einem Menü, das Photoshop oder CorelDraw ähnelt, weiter bearbeiten kann.

Im Hintergrund werkelt jemand an einem mechanischen Pferd, ein anderer konstruiert einen Liegestuhl mit Raketendüsen. Mit ein paar Mausklicks dehne ich die Struktur, drehe, verdrehe, füge Farbe und Textur hinzu. Mit einem abschließenden Knopfdruck wird aus der Skizze ein solider Gegenstand, dem man nun noch mit einer schnell zugänglichen Programmiersprache unzählige Eigenschaften einschreiben kann: Soll der deformierte Ball schweben, herumspringen oder magnetisch am Boden fest kleben? Wie reagiert er auf Wasser?

Die Nutzer haben ohne Hilfe der LindenLab-Progammierer bereits Flugzeuge, Wolkenkratzer und furchtbare Waffen geschaffen. Natürlich wird der faule Mediennutzer im Metaversum nicht automatisch zum kreativen Ingenieur. Viele Avatare liegen auch nur am Strand, flirten in digitalen Diskos und geben sich dem voyeuristisch-narzisstischen Flanieren hin.

Bis später, im zweiten Leben

Eine der Besonderheiten von "Second Life" liegt darin, dass die Urheberrechte an den geschaffenen Strukturen, an virtuellen Häusern und Mechanik-Ideen bei den Nutzern liegen. Etwa zehn Millionen Objekte wurden laut LindenLab bislang geschaffen, 230.000 von ihnen werden in der Online-Welt frei gehandelt. Haustier-Farmer, Tätowierer, Architekten, Immobilienspekulanten und Modedesigner bieten ihre Produkte an. Das Spielgeld, das sie dafür erhalten, können sie an einer Wechselbörse in echtes Geld umtauschen.

Das Bruttosozialprodukt der Miniatur-Volkswirtschaft betrug 2005 etwa 64 Millionen (reale) Dollar. Es gibt bereits 3000 Spieler, die mit ihrem virtuellen Beruf mehr als 20.000 Dollar im Jahr verdienen. Einige haben ihren realen Job gekündigt.

Andere hingegen verlegen Teile ihrer realen Arbeit in die Parallelwelt von "Second Life". Der kalifornische Psychiatrie-Professor Peter Yellowlees etwa hat dort ein virtuelles Gebäude entworfen, das helfen soll, seinen Studenten die Erfahrung von Schizophrenie-Patienten näher zu bringen.

Es ist Architektur wie auf Acid: Geht man durch das Gebäude, verschwindet plötzlich der Boden, oder ein Bild beginnt zu sprechen. Mehr als 50 Universitäten experimentieren mittlerweile mit "Second Life" und halten dort Online-Seminare ab. Lehrer und Schüler sind als Avatare im digitalen Klassenzimmer anwesend. Filme, Musik und Bilder können ins Spiel hochgeladen und so an der Tafel angezeigt werden. Einige Firmen haben bereits angekündigt, ihre Konferenzräume in "Second Life" nachzubauen um so transkontinentale Meetings abzuhalten.

Die Realität schaut manchmal vorbei

Im akademischen Diskurs über Video- und Computerspiele, der so genannten Ludologie, unterscheidet man gerne zwischen dem regelgeleiteten Spiel (game) und dem freien, kreativen Spiel (play). "Second Life" ähnelt eher kindlichen Imitations- und Improvisations-Experimenten, denn einem Wettkampf. Folgt man aber Johan Huizinga, der in seinem Klassiker "Homo Ludens" das Spiel dadurch definierte, dass es von der Wirklichkeit abgekoppelt sei, dann ist "Second Life" sicherlich kein Spiel - jedenfalls bald nicht mehr.

Je erfolgreicher es ist, je mehr Menschen über das Medium erreichbar sind, desto näher rückt die Wirklichkeit. Im August hat Duran Duran als erste Avatar-Band ein Konzert in der Online-Welt gegeben. Kurz darauf veranstaltete Mark Warner, Ex-Gouverneur von Virginia und demokratischer Präsidentschaftskandidatenkandidat, eine virtuelle Wahlkampf-Veranstaltung. Die IT-Firma Sun Microsystems hielt kürzlich eine Pressekonferenz in "Second Life" ab.

US-Agenturen wie "MetaAdverse" oder "A Million of Us" arbeiten daran, großen Konzernen den Zugang zu der Online-Welt zu ermöglichen. Dabei geht es weniger um klassische Anzeigen, sondern darum, "die Produkte in einer 3-D-Umgebung erlebbar" zu machen. Adidas sowie die Kleiderfirma American Apparel haben bereits Filialen in "Second Life" eröffnet, so dass man seinem Avatar dieselben Klamotten anziehen kann, die man selbst vor dem Bildschirm trägt.

Der Beginn von etwas ganz Neuem

"Second Life" wird gerne in eine Reihe mit Internet-Phänomenen wie "MySpace" oder "YouTube" gestellt. Doch die Metaversen sind der Beginn von etwas ganz Neuem. Web 3D statt Web 2.0. "Bald wird es völlig normal sein, in 3-D-Welten zu agieren", prophezeit der amerikanische Computer-Guru Mitch Kapor. "Sie werden unsere zweidimensionalen Interfaces ersetzen".

LindenLab arbeitet bereits an einem Update der Software, welches die Online-Welt bruchlos mit dem Internet integrieren soll. So könnte es möglich sein, dass etwa Unternehmen auf ihrer Webseite eine Tür zu "Second Life" einrichten, die es ermöglicht, von der textbasierten Homepage in eine Filial-Simulation zu springen und dort mit einem personalisierten Avatar ein paar Hemden anzuprobieren.

"Mixed World Situation" heißt so etwas bei LindenLab. Als die Firma vor kurzem den dritten Geburtstag von "Second Life" feierte, da standen zwischen Bar und Buffet auch ein paar Computerterminals. Internet-Kameras übertrugen die Veranstaltung in die Welt von "Second Life", wo eine Parallel-Party stattfand.

Ein Beamer projizierte umgekehrt die Bilder des virtuellen Festes an eine Wand in der Wirklichkeit. Als sei der Bildschirm nur die Tür zu einem weiteren Raum. Und, so erzählt man es sich heute auf den Straßen von "Second Life", als die LindenLab-Angestellten dann in Richtung dieses Raums winkten, da senkten die Avatare ihre Gläser, und winkten zurück.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: