"White Light/White Heat" von Velvet Underground:Tritt ein in eine unausweichliche Welt

Gerade ist eine fulminante Neuausgabe von Velvet Undergrounds "White Light/White Heat" erschienen. Die 17 Minuten von "Sister Ray" darauf drücken immer noch jedes menschliche Hirn platt.

Von Joachim Hentschel

Hört noch jemand die Klassiker? Die echten, denen nachgesagt wird, sie hätten Generationen inspiriert - wissen die Generationen das überhaupt?

Als Ende Oktober der Musiker Lou Reed starb, wurde er in fast allen Grabreden als Mitbegründer des Punkrock bezeichnet, als lederschwarzer Bilderstürmer und Rock'n'Roll-Schopenhauer. Die Stücke, die in der Stunde des Gedenkens liefen, das waren die versöhnlichen und beschaulichen. Das benebelte "Perfect Day", die Rotlicht-Phantasie "Walk On The Wild Side". Songs, mit denen TV-Serienabspanne zu gewinnen wären, aber keine Revolutionen. "Sister Ray", die über 17-minütige Schussfahrt durch die Vorhölle, mit der Reed und seine Band Velvet Underground sich 1968 ihren Pioniertitel eigentlich verdient hatten - in den sozialen Netzwerken postete kaum jemand dieses böse Lied, als sein Sänger beweint und bejubelt wurde.

Mit schrumpfenden Aufmerksamkeitsspannen oder kulturellem Verfall hat das gar nichts zu tun. Schon der Rockkritiker Lester Bangs hatte bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1982 die Manier, während seiner Besuche bei großmäuligen Musikangebern in deren Wohnzimmerschränken direkt nach "White Light/White Heat" zu greifen. Also jenem Velvet-Underground-Album, dessen zweite Seite fast ganz von dem Song gefüllt wird. Bangs holte die Vinylscheibe aus der Hülle, hielt sie prüfend unters Licht. Und erkannte - laut eigener Aussage - in der Mehrheit der Fälle, dass die Leute, die über die Bedeutung von "Sister Ray" schwafelten, "Sister Ray" offensichtlich nicht mehr als einmal gehört hatten. Weil die Platten wie neu aussahen.

Man kann das nachholen, am besten gleich, denn Universal Music hat eben eine wunderbar gestaltete, historisch-kritische Neuausgabe von "White Light/White Heat" herausgebracht. Einen Bildband mit drei CDs, die unter anderem drei verschiedene Versionen von "Sister Ray" enthalten: das Original, eine Mono-Fassung und einen frühen Livemitschnitt. Mit Reeds Tod hat die Veröffentlichung nichts zu tun, sie war vorher terminiert worden, der Künstler selbst hatte noch daran mitgearbeitet. Aber natürlich lässt der Verlust einiges in neuem Licht erscheinen. Etwa, was Lou Reed uns hinterlassen hat. Ob es stimmt, was die Geschichtsschreibung über Punk und Aufruhr sagt, oder ob doch nur die schönen Lieder geblieben sind. Von denen sich auf "White Light/White Heat" kein einziges findet.

Um vorzugreifen: Verglichen damit, wie furios verstörend der Song "Sister Ray" auch im Jahr 2013 noch klingt, ist das, was wir als Punkrock kennen, ein familienfreundlicher Freizeitspaß. Sollten Reed und seine Freunde mit diesem Stück jemanden inspiriert haben, können das nur Musiker sein, die heute noch ohne Publikum in schlecht beleuchteten Schuppen spielen und in den Billboard-200-Charts maximal bis Platz 199 kommen.

Instrumentaler Freak-out

Das war auch der Erfolg, den "White Light/White Heat" 1968 erzielte, und obwohl der Mythos von den früh verkannten Genies Velvet Underground so wohlfeil ist: Man darf nicht vergessen, dass die Plattenfirma Verve Records damals eine Absatzerwartung an das Produkt knüpfte. Man stellte der Band (die sich vom früheren Mentor Andy Warhol bereits entfernt hatte) den Hitproduzenten Tom Wilson zur Seite, der schon Simon & Garfunkel und Bob Dylan betreut hatte, und textete in einer der Werbeanzeigen: "Come, step softly into the inevitable world of The Velvet Underground."

Das Stakkato, den instrumentalen Freak-out, die Studien in Klangübersteuerung könnte man auch als Konsequenz aus den Jams von Beatkeller-Bands interpretieren. Wenn es also wirklich so war, dass Lou Reed mit seiner Gitarre den Hippies eins überziehen wollte, dann bemerkten die Hippies das Blut an ihren Köpfen sehr spät.

Kreissägen-Orgen und Modal-Jazz

Nur die Bewusstseinserweiterung funktioniert bei Velvet Underground nicht mehr. Nach 17 Minuten "Sister Ray" ist das menschliche Hirn derart platt gedrückt, dass sich beim besten Willen kein Bewusstsein mehr erweitern kann. Was spätestens nach dem ersten Drittel beginnt, wenn John Cale die Kreissägen-Orgel selbsttätig lauter dreht, was man bei Plattenaufnahmen eigentlich nicht tut. Wenn die Band schneller wird, ohne dabei den einen, wohl aus dem Modal-Jazz zitierten Akkord zu verlassen, wenn Lou Reed - der Verse rezitiert, die offenbar von einer Polizeirazzia in einer transsexuellen Fixerstube handeln - bei Minute sieben mit einem Gitarrensolo einsetzt, bei dem der Blues höchstens noch als besoffener Onkel in der Ecke sitzen darf. Nach einer Viertelstunde gibt es den Punkt, an dem die Musiker für einen metallischen, ohrenbetäubenden Moment alles Timing aufgeben. Bevor sie zurück in den Rhythmus fallen, für den Endspurt. Der offiziell bisher unveröffentlichte Konzertmitschnitt aus dem New Yorker Club Gymnasium enthält die Erstaufführung des Stücks fünf Monate vor der Studioaufnahme.

Es ist eine diszipliniertere, stoische, von Lou Reed im Aufseherton geblaffte Version, die erst klarmacht, mit welcher Technik Velvet Underground sich an ihrem popkulturellen Ausgangsmaterial abarbeiteten, am Cadillac-Rock'n'Roll der Alten, am Drogenbeat der Zeitgenossen: Reed, Cale und die anderen dekonstruierten diese Musik nicht einfach, sie ließen sie heiß laufen, bis sie sich in ihren Händen einfach selbst zerstörte. Und ein riesiges Loch hinterließ, schwarz wie die Membran eines Vox-Gitarrenverstärkers. Oder wie das Cover von "White Light/White Heat", auf dem das Foto eines tätowierten Oberarms nur zu erkennen ist, wenn man die Hülle so schräg gegen das Licht hält, wie Lester Bangs es mit den Platten machte.

Velvet Underground waren von Künstlern geprägt, die diesen Gedankengang Mitte der Sechziger vollzogen hatten. John Cale war beeinflusst von Minimalisten wie La Monte Young und Steve Reich, Lou Reed vom Jazz John Coltranes, den er in seiner Gitarrenarbeit explizit zitiert. Von Musikern also, an die sich unsere Ohren auch heute noch nicht gewöhnt haben, obwohl das alles 45 Jahre her ist. Natürlich gibt es heute eine ganze Szene skandinavischer Drone-Metal-Bands, abseitig geniale Elektroniker wie Flying Lotus oder Ruhekünstler-DJs wie Nicolas Jaar, die gewissermaßen den Film-, Zeit- und Soundriss bevölkern, den Velvet Underground damals freigelegt haben. Das Original bleibt trotzdem erschütternd. Man kann es hören wie beim ersten Mal, immer noch.

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