Wetterbericht (I): Autoren zum Klimawandel:Das Bangladesch Europas

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Der Sommer, als England im Regen verschwand: Der Klimawandel hat den Briten den Halt genommen. Zweifel und extreme Stimmungsschwankungen sind die Folge.

Sukhdev Sandhu

Das Klima wandelt sich. Hierzulande spürt man es nur peripher. Andere Gegenden verändern sich dramatisch. Aber ändert das auch den Alltag? Die Menschen? Ein Land? Wir haben Schriftsteller, Publizisten und Wissenschaftler in aller Welt gefragt, inwieweit sie den Klimawandel schon heute spüren. Uns erreichten dramatische Texte genauso wie belustigtes Kopfschütteln. Während Sibirien in rasanter Geschwindigkeit auftaut und die Sunderbans in Bangladesch tückisch leise vom Meerwasser geflutet werden, wunderten sich spanische Schriftsteller, was wir Deutschen nur immer haben mit dieser Klimakatastrophe. Zum Auftakt unserer neuen Serie ein Stück aus gemäßigten Breiten, das davon erzählt, wie das Wetter ein Land und seine Leute verändern kann.

Das beliebteste Avantgarde-Gedicht der englischen Sprache beginnt mit den Worten: "Wikinger. Nordutsira. Südutsira. Forties. Cromarty. Doggerbank. Fisherbank."

So lauten die ersten Zeilen der "Shipping Forecast", einer Radiosendung des Meteorologischen Dienstes vom Britischen Verteidigungsministerium, die täglich vier Mal von einem BBC-Sprecher mit bestem englischen Akzent verlesen wird.

Die Namen bezeichnen Wettergebiete rund um die Britischen Inseln. Jedoch wissen das die meisten Zuhörer nicht, die über die Jahre die sanfte, fast hypnotische Wiederholung dieser Worte zu lieben gelernt haben.

Die Briten waren schon immer besessen vom Wetter

Die Wetterbedingungen in den Radionachrichten mögen für die Seefahrer auf dem Meer furchteinflößend sein: "Rockall. Bailey. Südwestlicher Hurrikan mit Windstärke Zwölf." Die Zuhörer in ihrem Halbschlaf aber registrieren diese Nachrichten kaum.

Der Shipping Forecast kommt in vielen Büchern und Liedern vor. Die Briten waren schon immer besessen vom Wetter. Der Essayist und Lexikograf Dr. Johnson sagte: "Wenn sich zwei Engländer treffen, sprechen sie zuallererst übers Wetter." Der Job des Wettermanns im Fernsehen ist eine Eintrittskarte zu kulturellem Ruhm; der Song über einen von ihnen, "John Kettley is a Weatherman", erreichte in den Charts die Top 20.

Wir Briten malen uns oft aus, wie die Menschen in anderen Ländern Sex haben, edlen Kaffee trinken und über Philosophie debattieren; wir dagegen diskutieren über die Wahrscheinlichkeit, dass in den nächsten Stunden ein Tiefdruckgebiet aufziehen könnte.

"Charakter des Engländers wie sein Klima"

Oft schon wurde als Beleg für unseren Provinzialismus und unsere Blindheit gegenüber anderen Staaten eine Überschrift des Wetterberichts aus einer britischen Zeitung im 19. Jahrhundert zitiert: "Nebel im Ärmelkanal, der Kontinent ist isoliert."

Ausländische Besucher haben oft über den Zusammenhang zwischen Großbritanniens Wetter und dem Wesen seiner Einwohner spekuliert.

Der Philosoph George Santayana schrieb: "Der Charakter des Engländers ist wie sein Klima, sanft, changierend von grau zu strahlend und wieder zurück; unbeständig an der Oberfläche, doch im Grunde immer gleich."

Andere sagten, der Mangel an mildem Sonnenschein habe britische Arbeiter härter gemacht als ihre Kollegen in Italien oder Spanien - und erst recht als die in den trägen, malariageplagten Nationen des Empire, deren Einwohner dank der Kolonialisierung eine tugendhafte Arbeitsmoral aufsaugen durften.

Grünes Gras und schöne Frauen

Der Deutsche Historiker Johann Wilhelm von Archenholz, der hier im 18. Jahrhundert lebte, war überzeugt, dass das britische Wetter "Furchtlosigkeit und Emsigkeit fördert und allen Schreinern und Hufschmieden Gesundheit verleiht". Es trage dazu bei, dass das Gras ergrüne und sich die Frauen zu den schönsten in Europa entwickelten, ja die englischen Frauen seien so bildhübsch, "dass Männer große Gräuel vor unnatürlichen Vergnügen haben."

Lesen Sie auf der zweiten Seite, wie die Engländer mit Hochwasserkatastrophen umgehen

Solche Rückschlüsse vom Wetter auf den Charakter klingen heutzutage komisch und etwas bizarr. In intellektuellen Kreisen ist es auf jeden Fall außer Mode gekommen, von nationalen Befindlichkeiten zu sprechen.

Hollywood-Filme, in denen Serienmörder und heimtückische Raumschiff-Piloten von englischen Schauspielern gespielt werden, geben ein klares Bild von den Briten ab: kaltblütige Sadisten, eher verkopft als leidenschaftlich, eigenbrötlerische Snobs, die sich in exklusiven Privatclubs treffen.

Frenetische Fröhlichkeit Londons

In den letzten Jahren bröckelt dieses Bild, das schon immer etwas Erdichtetes hatte und sich hauptsächlich auf die Oberschicht bezog.

Eine finnische Freundin machte mich darauf aufmerksam, dass Großbritannien und der britische Charakter sich grundlegend gewandelt haben könnten. Sie vergleicht oft die frenetische Fröhlichkeit des Lebens in London mit der melancholischen Starre der Vororte von Helsinki, wo sie aufwuchs.

"Es war so grau und kalt", berichtete Ulrike einmal. "Ein guter Freitagabend bestand darin, alleine am Fenster zu sitzen, in die Ferne zu blicken und Wodka zu trinken. Meine Freunde hatten kaum Geld, sodass wir uns immer zusammen eine Flasche kauften. Wir haben unsere Finger erst in die Flasche und dann in unseren Arsch gesteckt, weil wir dachten, dass der Wodka so in die Blutbahn kommt. Auf jeden Fall haben wir uns schnell und billig besoffen." Am Ende packte sie ihre Sachen und zog nach England. "Die Leute hier sind so viel freundlicher und lustiger. Und das Wetter hier ist so viel besser."

Mehr Regen als jemals zuvor

Dieser Meinung würden wenige Briten beipflichten. Zwischen Mai und Juli ist im vergangenen Jahr mehr Regen gefallen als jemals zuvor in diesem Zeitraum. Überschwemmungen in Nordengland beschädigten Zehntausende von Häusern.

Die Medien, die jahrelang willfährig die Regierungsmeinung nachgebetet hatten, dass islamischer Extremismus die größte Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle, bemerkten plötzlich dass vom Klimawandel eine noch größere Bedrohung ausgehen könnte.

Nicht nur in Nordengland gab es damals Überschwemmungen. Der Fluss Severn trat über die Ufer und setzte ganze Teile von Gloucester in Südengland unter Wasser. Meine Eltern zogen dort in den siebziger Jahren hin, weil sie es dort so viel friedfertiger und sicherer als in der Hauptstadt fanden.

Wasser sparen mit Ziegelsteinen

Der vergangene Sommer sollte ein besonderer Zeitpunkt für sie werden: Mein Vater hatte nach drei Jahrzehnten knüppelharter Fabrikarbeit seinen Ruhstand angetreten. Zusammen mit meiner Mutter hatte er gerade das Haus abbezahlt. Sie hatten sich auf entspanntes Herumwerkeln im Garten gefreut. Stattdessen mussten sie sich im Haus verbunkern und zitterten, ob ihr Wohnzimmer überschwemmt würde.

Die Bewohner von Gloucester fühlten sich an den Zweiten Weltkrieg erinnert und versuchten über ihre Entbehrungen zu lachen. Sie pilgerten zu ausgewiesenen Straßenecken, um Wasser von Tankwagen zu holen. Und meine Eltern, die in einem indischen Dorf aufgewachsen waren, wo sie Wasser aus einem Gemeinschaftsbrunnen pumpen mussten, beschlich der Verdacht, dass ihr Leben als Einwanderer in England bis dahin eine Art Täuschung gewesen war.

In einer Umkehr des Marshallplans spendeten deutsche Städte Wasserflaschen und Notrationen. Am Ende war meine Mutter, die sonst nicht einen Penny für auch nur ansatzweise Überflüssiges ausgibt, süchtig nach Mineralwasser geworden. Ein Umweltbewusstsein im Alltag, wie es Öko-Aktivisten verfechten, wurde allgegenwärtig, als die Einwohner von Gloucester Ziegelsteine in die Spülkästen ihrer Toiletten stapelten, um Wasser zu sparen.

In Bangladesch nicht ungewöhnlich

Eine Zeitlang überwog die heitere Leichtigkeit. Dann tauchten finstere Geschichten von Profitgeiern und Plünderungen auf sowie die Frage, warum Regenfälle, die in Bangladesch nicht ungewöhnlich wären, das Stadtzentrum lahmlegen und eine derart apokalyptische Seenlandschaft erzeugen konnten.

Nicht ganz unberechtigt verglichen sie ihre Lage mit der Not der Betroffenen des Hurrikans Katrina in Florida. Vor allem fragten sie, wie das Undenkbare hatte passieren können - und zwar in England.

Lesen Sie auf der dritten Seite, warum bei den Briten das Gefühl aufkommt, dass es das Glück nur anderswo gibt.

Das Wetter in einem Land ist eine Art Gerüst, es liefert die Grundparameter für eine kollektive Psychologie. Was passiert, wenn sich diese Parameter verschieben? Im Vereinigten Königreich sind die Folgen Haltlosigkeit, Zweifel und extreme Stimmungsschwankungen.

Schauen Sie ins Fernsehprogramm: Es gibt auf BBC fast nur noch Immobilien-Shows, die zeigen, wie Leute umziehen; in den restlichen Sendungen wird Hausbesitzern geraten, sich von ihren Möbeln zu trennen und auf natürlicheres Design umzusteigen. Die zentrale Botschaft ist eindeutig: Alles im Leben hat einen Geldwert; verwurzele Dich nirgends, weil Du ohnehin umsiedeln wirst; Großbritannien ist eine derart trostlose, durchnässte Provinz, dass es das Glück nur anderswo gibt.

Nation von Sonnenanbetern

Diese Vorstellungen sind schon mehr als einer Million Briten in Fleisch und Blut übergegangen, die in den Unterlagen von Volkszählungen nicht mehr auftauchen und vermutlich in wärmeren Breitengraden als Hilfsarbeiter tätig sind oder dort Party machen.

Dieser neuentdeckte Heliozentrismus überschneidet sich mit wirtschaftlichen und soziologischen Entwicklungen: Selbst Kleininvestoren investieren im Ausland.

Die Zahl der Briten mit Zweitwohnsitz in Florida oder Marbella wächst; und immer mehr Briten wandern nach Neuseeland und Australien aus. Da wundert es kaum, dass die Briten kaum zu Patriotismus neigen. Sie haben sich zu einer Nation von Sonnenanbetern entwickelt, die einen Großteil ihrer Gehälter für Sonnenbäder, Enthaarungsbehandlungen und Dachgärten ausgeben.

Neue kollektive Ängste

Aber natürlich hat nicht jeder das Geld oder die geistige Disposition, um in dem zu gedeihen, was der Philosoph Zygmunt Baumann die "Flüssige Moderne" nennt.

Kein Wunder, dass sich die nationalen Wesenszüge wandeln, wenn sich zugleich das Land massiv verändert und sein chaotisches Klima in den Medien als Spiegel und Metapher herhalten muss für rasante demografische Verschiebungen, das Versagen der Bausparkassen, das die Immobilienblase aufgebläht hat, und für kollektive Ängste vor Tierkrankheiten und Terrorismus.

Santayanas Vorstellung vom Sanftmut der Briten und Archenholz' Bewunderung ihres unbekümmerten Gemüts erscheinen heute lächerlich veraltet. An jedem Freitagabend sind britische Städte dominiert von Neo-Hogarthischem Gesindel, das sich zu apokalyptischen Schreckensorgien zusammenrottet.

Amorphes Gefühl des Unbehagens

Überall torkeln und brüllen Männer wie Frauen, deren Gehirne von Alkohol und pharmazeutischen Drogen vernebelt sind und prügeln sich mit Freunden, Döner-Verkäufern, Taxifahrern und Polizisten, ja selbst mit Fensterscheiben, in die sie zugedröhnt taumeln. Absurd laute Musik dröhnt aus Diskos, deren elektronische Beats sich mit dem Klirren von zerberstenden Flaschen und Polizeisirenen zu einer furchterregenden urbanen Symphonie vermengen.

Wenn dunkle Wolken über den Köpfen einer Nation hängen, und wenn eine amorphes Gefühl des Unbehagens und der Unsicherheit den Alltag durchdringt, dann leben alle nach dem Motto "Live hard, die young". Dazu kommt die Angst: Ein befreundeter Lehrer erzählte mir, dass er seine Viertklässler öfters dazu auffordert, etwas Schreckliches und Fieses zu malen. Früher gaben sie ihm Zeichnungen von Dinosauriern und Aliens. Dieses Jahr malte fast jeder Dritte Bilder von einem überschwemmten London.

Ein Bild von Verletzlichkeit

Als Kind habe ich den Regen geliebt. Zur Verzweiflung meiner Mutter lief ich dann immer raus, sprang in Pfützen und imitierte Gene Kelley. Das Wasser erschien mir reinigend, eine Art Neugeburt. Wenn es heute regnet, starre ich aus dem Fenster meiner Londoner Wohnung und ertappe mich dabei, wie ich denke: Und wenn es nicht mehr aufhört?

Ich sehe ältere Bangladeschis vorbeitrippeln. Viele von ihnen sind Immigranten, die Anfang der Siebziger herkamen, um den Flutkatastrophen zu entgehen, die ihr junges Land zerstörten. Sie flohen in ein Land, das sie damals für einen sicheren Hafen hielten.

Die Briten wurden früher als "Inselrasse" bezeichnet. Mit dem Ausdruck wurden Zähigkeit und Tapferkeit assoziiert. Heute ruft er bei mir ein Bild von Verletzlichkeit hervor. Wenn ich mir jetzt den Shipping Forecast anhöre und der BBC-Sprecher "Südwestliche Hurrikans mit Windstärke Zwölf" erwähnt, erschaudere ich. Dann schließe ich die Augen und versuche, an etwas anderes zu denken.

Sukhdev Sandhu lebt als Autor, Publizist und Filmkritiker in London. Deutsch von Janek Schmidt

© SZ vom 21./22.06.2008/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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