Werte-Diskussion:Lob der Unschärfe

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Andreas Urs Sommer: Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2016. 199 Seiten, Hardcover 19,95 Euro; E-Book 6,99 Euro.

(Foto: Verlag)

Werte versprächen viel, erklärte Niklas Luhmann, aber hielten nichts. Der Philosoph Andreas Urs Sommer diskutiert diese Werte-Skepsis in allen Facetten, er holt die Werte aus ihrem Wertehimmel und entdeckt sie als gesellschaftliche Fiktionen.

Von Friedrich Wilhelm Graf

Nicht wenige Menschen glauben an die Existenz von Engeln, Vampiren, Gnomen und gar Spaghetti-Monstern. Sehr viel mehr noch beschwören das Vorhandensein von Werten. Gerade in Krisen des demokratischen Gemeinwesens klagen diese "Wertgläubigen" über den Rechtsgehorsam der Bürger hinaus eine innere Bindung an "Grundwerte" sowie zivilreligiöse Treue zu "unserer westlichen Wertegemeinschaft" ein. Gern wird auch über "Werteverfall" gejammert und eine neue "objektive Werteordnung" gefordert. Mit Begriffen wie "Wertewandel", "Werturteil", "Mehrwert" und "Wertepluralismus" wird der Wertbegriff in ganz unterschiedlichen diskursiven Kontexten verwendet.

Der Freiburger Philosoph Andreas Urs Sommer spricht deshalb von "inflationärem Wertgerede" und will die in den offenen Gesellschaften "des Westens" herrschende "soziale Nötigung zum Werteglauben" kritisch untersuchen. Diese Kritik dient einer konstruktiven Absicht: Sommer möchte zeigen, dass schnell sich wandelnde moderne Gesellschaften auf immer neue Wertdebatten angewiesen sind. Seine Analysen des möglichen Nachteils von Wertrhetorik dient der Bekräftigung ihres Nutzens.

In einem unterhaltsam zu lesenden, weil weithin ohne philosophischen Jargon geschriebenen Essay will der prominente Nietzsche-Forscher drei relativ simple, aber bald in elementare Ungewissheit führende Fragen beantworten: Was ist das, woran ich zu glauben genötigt werde? Warum soll ich an Werte zu glauben genötigt sein? Schließlich: Was sagt es über eine moderne Gesellschaft aus, dass sie nach Meinung vieler Leute unausweichlich Werte braucht?

Eine Wertontologie lehnt Sommer ab, Werte kommen nicht aus einem "Wertehimmel"

Wert war ursprünglich ein Begriff der ökonomischen Sprache. Erst vergleichsweise spät, im frühen 19. Jahrhundert, wanderte er allmählich in ethische Diskurse ein. Nicht nur jüdische wie christliche Theologen und Philosophen benutzten ihn, sondern auch gelehrte Juristen, vor allem Staatsrechtslehrer, und Sozialwissenschaftler. Doch trotz aller akademischen Bemühungen, begrifflich prägnant anzugeben, was denn ein Wert sei, blieb die Karriere des ethischen Begriffs immer von scharfer Kritik begleitet. Für diese Kritiker waren Werte nur leere Worte, mit denen die Werteprediger bloß ihre eigenen, also partikularen moralischen Normen anderen aufzuzwingen suchten.

Der Gegeneinwand, dass wir fortwährend bewerten und dabei immer schon die Existenz von "Werten" voraussetzten, wird von Sommer klug entkräftet. Obgleich er durch kritische Analyse die Leistungskraft von Wertedebatten erweisen will, lehnt er jede Wertontologie mit ihrem Glauben an das Immerschongegebensein von Werten in einem "Wertehimmel" ab. Gegen jede "materiale Wertethik", wie sie vor allem katholische Gelehrte im Anschluss an Max Scheler entwarfen, mobilisiert er "hochdosierte Skepsis" und erklärt "Werte" zu "Fiktionen".

Dies schließe ihre "Existenz" jedoch nicht aus. Nicht nur werde "Existenz überschätzt". Vielmehr müsse man auch den Seinsbegriff differenzieren und unterschiedliche Modi von Existenz unterscheiden. Auch flüchtige Gedanken oder von Menschen entworfene Fiktionen seien Fakten. In kritischer Auseinandersetzung mit den Kulturwerttheorien der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus um Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert sieht Sommer in Werten "Als Ob-Substanzen". Gültig sind sie insoweit, "als ob" es sie tatsächlich gäbe.

Werte versprächen viel, erklärte Niklas Luhmann, hielten aber nichts

Stärker als andere Verteidiger des Wertbegriffs betont Sommer die Geschichtlichkeit und hohe Plastizität moralischer Werte. Sie veränderten sich fortlaufend, und durch die Pluralisierung von Werten würden fortwährend neue Werte gezeugt. Seine Sicht des Wertewandels fasst Sommer in einer überraschenden These zusammen: Die für moderne Gesellschaften typische Moralinflation bedeute keine Entwertung von Werten, sondern umgekehrt deren Stärkung und Aufwertung. Wertedeflation mit der Tendenz zur Minimierung oder gar Abschaffung des Wertepluralismus drohe nur in die diktatorische Alleinherrschaft eines einzigen Letztwertes zu führen. Sommer verweist dazu auf die von Vordenkern des Nationalsozialismus geschätzte Rede von den "arischen Werten".

Die fortwährende Steigerung von Wertevielfalt erzeugt das Folgeproblem, dass sich die vielen Werte wechselseitig relativieren. Sommer empfiehlt, die in allem Wertdenken angelegte Tendenz zum moralischen Relativismus gelassen hinzunehmen. Er lobt die notorische Unschärfe und diffuse Mehrdeutigkeit seines "Wertepluriversums" als Befreiung von all jenen normativen Zwängen, die mit binären ethischen Codes wie "gut" und "böse" erzeugt würden. Die Übernahme von Begriffen Niklas Luhmanns kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sommer dessen These, Werte versprächen viel, hielten aber nichts, unterlaufen will. In einer funktional differenzierten Gesellschaft mit ihren je autonomen heterogenen Kultursphären könnten Werte die Grenzen zwischen den eigengesetzlichen Funktionslogiken überbrücken und erlaubten als "Verbindungsmaschinen", "Beziehungsgeneratoren" und "Transfervirtuosen" ganz neue "Synthetisierungsleistungen" zwischen dem sonst different Bleibenden.

In schwärmerischem Ton schreibt Sommer den Werten die Fähigkeit zu, analog zum Geld, dem allgemeinen Tauschmittel, alles mit jedem verbinden zu können. Wie sich die behauptete universale Verknüpfungskraft zur Einsicht verhält, dass Werte oft nur gruppenspezifisch sind und die normativen Konflikte in pluralistischen Gesellschaften gerade die elementaren Wertdissense zwischen konkurrierenden gesellschaftlichen Akteuren widerspiegeln, erklärt er nicht.

Sommers Rede von Werten als notwendigen "Fiktionen" bleibt im Entscheidenden aporetisch

Sein Loblied der Wertevielfalt ist hier allzu eintönig. Bei Max Weber schließt der "Polytheismus der Werte" eben auch harten Kampf ums Überleben der eigenen Gruppen mit ihren besonderen Wertorientierungen ein. Hier lässt sich im freien Spiel der vielen Kräfte nichts mit Werten "in der Schwebe halten". Sie sind eben nicht nur "Beziehungsfiktionen, die potentiell alles mit allem in Verbindung setzen", sondern zugleich auch Grenzmarker, die moralische Binnenwelten vor ihren Umwelten schützen wollen. Obendrein können Werte auch als Waffen im Ideenkampf dienen.

Bleibt noch eine Anmerkung zum Begriff der "Fiktionen". Immer wieder betont Sommer, dass Menschen Werte nicht als gegeben vorfinden, sondern dass sie sich selbst ihre Werte machen. Wenn "Überzeugungen religiös-metaphysischer Arbeit ihre Bindungsfunktionen nicht länger gewährleisten" können, sollen Werte den benötigten "neuen Kitt" bieten. "All das natürlich unter der Bedingung, dass wir so tun, als ob es sie gäbe." Wer da nicht mitspielen will, wird bald als ein Gegner ausgegrenzt, der ans "metaphysische Gespenst des Universalismus" glaubt. Kennt der Freiburger Nietzsche-Deuter keine guten Gründe für einen postmetaphysischen ethischen Universalismus? Die postmoderne Lässigkeit, mit der hier universalisierbare ethische Prinzipien verabschiedet werden, überrascht. Sind wirklich alle Werte gleich gültig? Sommers Rede von Werten als notwendigen "Fiktionen" bleibt im Entscheidenden aporetisch. Werden Fiktionen als unverzichtbar entworfen, muss man ihren spezifischen Existenzmodus als "gemacht als nicht-gemacht" bestimmen. Doch genau so gewinnen Werte unkontrollierbare Eigenmacht über ihre Produzenten.

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