Werk der Wahl:Die Linien der Tage

Der Maler Joachim Jung forscht einer Skizze Paul Klees nach

Vorne verschwinden zehn Federstriche neben und hinter der Signatur und vor einem aus Krapplack-Nebel herausgewaschenen Fleck aus dem Bild - mit der Schere abgeschnitten. Oben, vor Grün, Lila und Rot, Drei-ecke mit skripturalen Schlingen und amorphen Zeichenkohle-Wölkchen, die die Geometrie konterkarieren und zugleich verräumlichen: kristallines Durcheinander, in dem der linke Straßenzweig um die Ecke biegt. Der rechte Zweig verschwindet hinter einem Baum aus Tuschefasern, Grünflecken und Kohledunst. Ein schraffierter Wind weht Häuser schief. Über der Gabelung kreuzen sich ein paar Linien und einige umreißen ein Eckhaus mit Kohlefenstern und ein Standl davor. Strichbündel und Goldockerflecken münden in einem weiten Platz.

Unter dem Baum stehen Leute, hinter ihnen jemand mit Stock, zwei Passanten werden gleich die Straße überqueren, einer wartet beim Standl vor dem Haus, und ein Radler mit Hut schaut hinüber zu einer Person, die einen Karren die linke Straße hinauf zu ziehen scheint. Mitten auf dieser Straße weicht ein zweiter Radler einer Frau mit Kind aus, ein weiterer Radler am Straßenrand gestikuliert oder zeigt einer Gruppe etwas. Davor tritt ein vierter Radler mächtig in die Pedale.

Werk der Wahl: Eine fast quadratische Skizze von 1912 wird ein Dreivierteljahr später für Paul Klee die Vorlage für ein aquarelliertes Minipanorama.

Eine fast quadratische Skizze von 1912 wird ein Dreivierteljahr später für Paul Klee die Vorlage für ein aquarelliertes Minipanorama.

(Foto: Städtische Galerie im lenbachhaus und Kunstbau, München)

1 - 2 - 3: In seinem handschriftlichen Œuvrekatalog registriert Paul Klee dieses Bild 1913 als "27, Straßen Zweigung (Paris), Kohle, Feder, aquarelliert franz. Ingres; B - auf die Konstruktion 1913 . 12".

"B" heißt bei Paul Klee: nach der Natur ("A" = ohne Natur) und "Konstruktion 1913 . 12" ist eine Federzeichnung - wenige Striche: Dreiecke, Schleifen, die Straßenfluchtlinien, die Haus- und Baumkonturen, keine Menschen. Er verbucht sie als "12, Straßen Zweigung (Konstruktion des rein graphischen Ausdrucks); B - nach der Scizze 1912 . 64"

Diese fast quadratische Skizze von 1912: Bäume-Straßenzweigung-Eckhaus-eine Passantin-"nach der Natur", hat Paul Klee ein dreiviertel Jahr später abgezeichnet - gestaucht und gedehnt zu einem Mini-Panorama - 2,8 mal 9,5 Zenitmeter - und dann nochmals gezeichnet, größer, komplexer - und aquarelliert.

Paris: Anfang Oktober 1911 lernt Paul Klee Wassily Kandinsky kennen (darauf folgend Gabriele Münter, Alexej v. Jawlensky, Marianne v. Werefkin, Maria und Franz Marc, Alfred Kubin und August Macke kennt er schon). Im Januarheft 1912 der Berner Zeitschrift seines Jugendfreunds Hans Bloesch Die Alpen rezensiert er die erste "Blaue-Reiter-Ausstellung". "Zufällig schreibt Hans Bloesch im selben Heft über "Paul Klee, ein moderner Graphiker". Er begründet mit der Authentizität des Erlebens dessen "subjektives Schauen". Beide schreiben von "Uranfängen von Kunst". Paul Klee glaubt, "sämtliche Läufe der Tradition verlieren sich jetzt im Sande" und "begrüßt sie, die an der nun kommenden Reformation mitarbeiten. Der kühnste von ihnen Kandinsky . . ."

Werk der Wahl: Joachim Jung, selbst Maler, arbeitete Ende der Achtzigerjahre an einem Projekt über die Tunisreise Paul Klees im Jahr 1914.

Joachim Jung, selbst Maler, arbeitete Ende der Achtzigerjahre an einem Projekt über die Tunisreise Paul Klees im Jahr 1914.

(Foto: Wilfried Petzi)

Schon im Februar veranstaltet die Redaktion "Der Blaue Reiter" ihre zweite - graphische - Ausstellung: "Schwarz - Weiß", nun mit 17 Werken von Paul Klee (darunter: "Scene im Restaurant" und "Im Villenviertel", beide jetzt in der Klee- und Kandinsky-Ausstellung - auch die Lithographie dort "Ohne Titel (Vier Figuren)" ist fast wie die verschollene Federzeichnung "Steinhauer" aus der "Schwarz-Weiß"-Ausstellung, die auch im Almanach "Der Blaue Reiter" abgedruckt wurde).

Paul Klee schreibt wieder in den Alpen: ". . . kubistische Kunst, die man hier für typisch schwabingisch hält. Picasso, Derain, Braque, Delaunay heißen diese Schwabinger, die noch weniger wissen wo Schwabing liegt als meine Leser." Und: (Tagebuch 1912/April) "Durch diese Schwabinger und ihre Werke gewann der Gedanke sehr an Reiz, sich wieder einmal in Paris ein wenig umzusehn. Auch meine Frau wollte da gern dabei sein . . ."

17 Tage, viermal Louvre - etruskische Sammlung - Musée Luxembourg - Wilhelm Uhde (Sammler) - Salon des Indépendants - Galerien: Greco - Delacroix - Guys - Ingres - Daumier - Monet - Degas - Picasso - Braque - Derain - Vlaminck - Matisse, Ateliers: Hofer-Haller (Jugendfreund) - Le Fauconnier - Delaunay (vermittelt durch Kandinsky, Paul Klee wird im Herbst Delaunays Aufsatz "La Lumière" übersetzen), Opéra - Panthéon Bar - Montparnasse - Cafés - Cirque - Cinéma - Sonnenfinsternis . . . und, "kein Tag ohne Linie": "Pariser Scizzen; B", vier sind enthalten, unter diesen: "1912, 64, Straßen Zweigung; B".

Konstruktion: Die Alpen, Augustheft 1912: Paul Klee hat einen langen Text über Expressionismus und Kubismus verfasst: "Diese Formphilosophen verändern die Dinge, die erst umfühlt, dann umspekuliert, einem heterogenen Bildorganismus eingeordnet, in einzelne Motive zerschnitten, dahin gesetzt werden, wo es die Bildidee fordert. Zerstörung, der Konstruktion zu liebe? . . . freies Atmen."

Lenbachhaus / Kunstbau, Luisenstr. 33, täg. außer Mo 10-20 Uhr

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