"Was ist deutsch?":Wissen, woran wir sind

Debatten führen, gerade wenn der Ton schärfer wird: Ein Fazit der SZ-Serie, die den Wandel des gesellschaftlichen Klimas reflektiert.

Von Sonja Zekri

Das klingt so schlicht: Vor zwei Monaten war Deutschland ein anderes Land. Aber wenn man zurückblickt, wo diese Serie Ende November begonnen hat und in welchem gesellschaftlichen Klima sie mit dem heutigen Beitrag endet, dann scheint die schiere Intensität der Entwicklung viel mehr als ein paar Wochen zu füllen.

Die Formulierung von der Willkommenskultur beispielsweise wurde im Herbst noch stolz gebraucht und ist heute fast zum Spottwort geworden. Die Bundeskanzlerin, damals bejubelt, wirkt heute oft einsam. Die Überforderung mancher Behörden wurde damals noch als Ansporn für effektives zivilgesellschaftliches Engagement genutzt. Heute wird sie mit wohligem Schauder zum "Staatsversagen" aufgeblasen, als gäbe es einen anderen, härteren - deutscheren? - Staat, der in den politischen Kulissen nur auf seine Stunde wartet. Und spätestens seit der Silvesternacht in Köln gehört zur Debatte ein bedrückender Negativkonsens: Diese Dimension öffentlicher Übergriffe, diese aggressive Misogynie seien ganz sicher nicht deutsch und dürfen es auch nicht sein.

Sechzehn Beiträge haben durch diesen Winter geführt. Unsere zugegeben etwas heimtückische Frage hat nicht nur die Autoren dieser Reihe in ein manchmal wochenlanges Grübeln gestürzt, sondern auch viele Leser, die auf jede Folge mit Briefen, Anrufen, Tweets und E-Mails antworteten.

Ungewöhnlich war dabei weniger das Engagement der Gastautoren - die Frage lässt schließlich niemanden kalt -, als vielmehr die exemplarische Bereitschaft, bei aller Dringlichkeit andere Meinungen und Haltungen neben sich zu akzeptieren. Ganz gewiss wünscht sich der konservative katholische Schriftsteller Martin Mosebach ein anderes Land als Birgit Bosold, die Direktorin des Schwulen Museums in Berlin. Sicherlich bewertet der Historiker Heinrich August Winkler die Politik Angela Merkels anders als seine Kollegin Ute Frevert. Die Anwältin Seda Basay und die Maxim-Gorki-Intendantin Shermin Langhoff erleben die Mehrheitsverhältnisse in diesem Land anders als die Polizisten Elisa Weise und Florian Wackerbauer. Manche Beiträge ergänzten einander, andere widersprachen sich, alle respektierten den Rahmen der Debatte.

Es gehört, so scheint es, zur jüngsten Entwicklung, dass dies nicht mehr selbstverständlich ist. In einem Land, das sich bei aller Kontroverse auf seine Konsenskultur so viel zugutegehalten hat, sieht es oft so aus, als verstehe die eine Hälfte der Menschen die andere nicht mehr. Viele tun nicht mal mehr so, als wollten sie daran etwas ändern.

Natürlich ist das kein schöner Zustand, für viele sogar ein schwer erträglicher. Aber ist es wirklich so überraschend? Könnte es nicht sein, dass die Schärfe der Auseinandersetzung auch mit der Vermeidung zuvor zusammenhängt, dass jetzt Gegensätze aufbrechen, die sich lange Zeit so genau keiner anschauen wollte?

Den Deutschen, das beschreibt Stephan Lessenich in diesem abschließenden Beitrag, geht es so gut wie nie zuvor. Die Verelendungsszenarien waren nie grundloser als heute. Und doch sind die sozialen Unterschiede skandalös groß, bekämpfen radikale Kräfte die Demokratie - Rechtspopulisten, Salafisten, Islamisten, Ausländerfeinde, all jene, die ihre angemaßte Macht auf der Angst der Menschen gründen.

Man könnte, man sollte vielleicht sogar der Versuchung widerstehen, darin nur künftige Bruchlinien zu erkennen. Mit einem gewissen Zweckoptimismus ließe sich dem Getöse nämlich sogar etwas Gutes abgewinnen: Wir wissen, woran wir miteinander sind.

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