Wahl in den Niederlanden:"Manchmal ist Mittelmäßigkeit auch ein Segen"

Supporters of Dutch far-right politician Geert Wilders of the PVV party confront pro-immigration activists during a rally in Heerlan

Zusammenstoß von Wilders-Wählern (rechts) mit Flüchtlingsbefürwortern während einer Kundgebung in Heerlen vor wenigen Tagen

(Foto: REUTERS)

Wut, Schuld, Scham: Bei der Wahl in den Niederlanden spielen diese Gefühle eine Rolle. Der Schriftsteller Herman Koch seziert sein Land brillant. Ein Gespräch über Toleranz, Überheblichkeit - und Wilders-Wähler.

Interview von Jakob Biazza

Sind es Leute wie die Protagonisten in Herman Kochs Romanen, die Europa gerade den Populisten übergeben? Der niederländische Bestseller-Autor ("Angerichtet", "Sommerhaus mit Swimmingpool", "Odessa Star") ist ein großer Sezierer menschlicher Motive wie Wut, Frust, Überheblichkeit und Moral. Über seinen Büchern hängen stets Fragen nach Antrieb und Grenzen menschlichen Handelns: Wie hätte ich mich verhalten? Wie weit wäre ich gegangen? Sein Lieblingsthema: der Wohlstandsbürger und seine Abgründe. Höchste Zeit also für ein Gespräch darüber, was starke, radikale Positionen so attraktiv macht.

Süddeutsche.de: Herr Koch, haben Sie die TV-Debatte zwischen Premier Mark Rutte und Geert Wilders verfolgt?

Herman Koch: Ich habe die Wiederholung gesehen. Ich betone das so, weil ich ständig das Bedürfnis hatte, vorzuspulen.

Warum?

Weil es so absolut inhaltsleer war. Eine einzige Wiederholung von Dingen, die wir schon kannten. Und auch menschlich schwer zu ertragen.

Inwiefern?

Ach, es gibt ja Politiker, deren Meinung man nicht teilt, und die man trotzdem als Menschen schätzen kann. Das ist hier eindeutig nicht der Fall.

Sie klingen fast wie einer der Protagonisten aus Ihren Romanen ...

So streng meine ich das nicht. Ich höre eh selten auf das, was Politiker sagen. Mich interessiert mehr, wie sie etwas sagen.

Weil das Wie das ist, was beim Publikum ankommt und verfängt?

Weil mich Menschen interessieren. Und weil sich ein Mensch eben eher dadurch entlarvt, wie er etwas sagt. Gerade bei Politikern, die in solchen Debatten komplett in ihren Rollen aufgehen und stur über ihr Programm sprechen, statt in einen Dialog zu treten. Ich dachte mir während der letzten Debatten jedenfalls öfter: Wir alle haben in den vergangenen Wochen vielleicht ein bisschen zu viel über Trump und Clinton gelacht. Denn es ist hier keinen Deut besser. (lacht)

Würden Sie die These unterschreiben, dass viele Ihrer Protagonisten großartige Wilders-Wähler abgäben?

Ein paar Kritiker haben das vor allem über die Protagonisten in "Angerichtet" gesagt, als es erschienen ist. Aber ich würde sagen: Das, was meine Charaktere mit den Anhängern von Populisten gemein haben, ist nicht so sehr ihre politische Überzeugung. Es ist eher die Ablehnung dessen, was unter dem Begriff "Political Correctness" so allgegenwärtig ist.

Das klingt fast, als hielten Sie "Political Correctness" eher für einen Teil des Problems als der Lösung?

(überlegt lange) Ich sage Ihnen was: Vermutlich haben Sie damit recht. Political Correctness galt lange als Allheilmittel. Als einfühlsamer Blick auf die Welt. Dabei haben wir möglicherweise übersehen, dass es Menschen auch ausschließt, wenn wir ihnen ständig vorwerfen, unsensibel und gedankenlos zu sein. Man stempelt sie damit ab - ob es inhaltlich nun gerechtfertigt ist oder nicht. Und das erzeugt wohl ein Gefühl, das unbestreitbar als Nährboden für Populismus dienen kann.

Weil diese Menschen ihre eigenen Schuldgefühle satthaben und wieder sagen dürfen wollen, was sie wirklich denken?

Wäre doch möglich! Vielleicht ist da tatsächlich ein Gefühl von Schuld und Scham, weil man gesellschaftlichen Ansprüchen nicht genügt. Und das lässt sich jetzt wieder leichter wegwischen. Schließlich sagen Politiker ja jetzt auch ständig Dinge, die politisch sehr unkorrekt sind - und geben sich dabei auch noch den Anstrich von Ehrlichkeit und Authentizität.

Wie können wir da wieder in einen Dialog kommen?

Herman Koch Autor Niederlande Wilders

"Ich würde meine Charaktere auf jeden Fall nicht als rein fiktional bezeichnen." Schriftsteller Herman Koch.

(Foto: imago stock&people)

Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass wir uns den Weg dorthin verbauen, wenn wir diese Leute nur mit Hohn und Sarkasmus überschütten. Wenn wir sie, wie zum Beispiel Hillary Clinton das im Wahlkampf ja getan hat, einfach nur als ignorante, schreckliche Menschen bezeichnen.

Die meisten Ihrer Protagonisten erfüllen nicht das Klischee vom abgehängten Sozialverlierer. Sie leben in der gehobenen Mittelschicht, haben wenigstens halbwegs intakte Familien. Sie könnten glücklich sein. Aber sie tragen fast alle einen großen Frust in sich, eine enorme Wut.

Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Aber die Gründe für die Wut und den Frust dieser Menschen sind sehr individuell: Sie fühlen sich von ihrem Bruder gedemütigt oder von der Welt in ihren professionellen Ambitionen nicht ernstgenommen. Ich glaube nicht, dass sich daraus eine gesamtgesellschaftliche Theorie stricken lässt.

Haben Sie bei der Arbeit an Ihren Büchern trotzdem etwas darüber gelernt, was starke, was radikale Positionen so attraktiv macht?

Vielleicht dies: Manchmal können Menschen durch radikale Ansichten und sogar durch Gewalt Wahrheiten zutage fördern. Wenn man sich auf ihre Motive einlässt, kann man nämlich auch an unsympathischen oder sogar bösartigen Menschen Züge erkennen, die man von sich selbst kennt.

In der Fiktion liegt also doch eine tiefere Erkenntnis?

Ich würde meine Charaktere auf jeden Fall nicht als rein fiktional bezeichnen. Es gibt diese Art von Menschen, es gibt diese Wut in der echten Welt. Und fast jeder Leser kann ihre Gründe bis zu einem bestimmten Punkt nachvollziehen. Und genau das, die Frage, wo für den Einzelnen der Punkt liegt, an dem diese anfängliche Sympathie oder zumindest dieses Verständnis kippt, ist doch das Spannende. Weil sich die Menschen genau dort fragen: Wie hätte ich mich verhalten? Wie weit wäre ich gegangen? Würde ich das nicht auch gerne mal so sagen?

Und, wie viele Leute würden?

Ich bin kein Soziologe. Aber von dem Feedback, das ich von Lesern bekomme, gehen gefühlt etwa 20 Prozent so weit zu sagen: "Endlich ein Protagonist, der das tut, was wir alle denken."

"Das Problem war schon immer da. Es ist im Wort 'Toleranz' bereits angelegt."

Ist unser Bild von den liberalen, toleranten Niederlanden also ein Klischee?

Wir alle dachten lange: nein. Weil alles so glatt lief. Wir hielten uns für sehr tolerant, hatten kaum politisch extreme Parteien oder Strömungen - weder von links noch von rechts. Darauf waren wir sehr stolz. Und daraus haben sich die Niederlande in eine gewisse Überheblichkeit gegenüber anderen Ländern verstiegen. Dann kippte es. Und nun kommen ständig Journalisten von außerhalb und fragen: Was ist schiefgelaufen?

Und, was ist schiefgelaufen?

Das ist eben der Punkt: Nichts ist schiefgelaufen! Das Problem war schon immer da. Es ist im Wort "Toleranz" bereits angelegt. Wer einen anderen Menschen, zum Beispiel einen Geflüchteten, toleriert - und zwar im Wortsinn -, der stellt sich doch schon über ihn.

Weil er sich selbst zur Instanz macht, die entscheidet, wer hier wen duldet und akzeptiert?

Exakt. Jemanden tolerieren zu können, setzt immer eine Position von Stärke, von Überlegenheit, von Deutungshoheit voraus. Das wird besonders deutlich, wenn man die Konstellation versuchsweise umdreht. Stellen Sie sich vor, ein Geflüchteter würde sagen: "Ich lebe hier, aber ich toleriere die Niederländer in meiner Nachbarschaft." Da wäre aber die Hölle los.

Wie sähe die Alternative zu dieser Toleranz aus?

Wir müssen uns klarmachen, dass es bei der Frage, wie wir Migranten behandeln, nicht um Toleranz geht. Es geht darum, zu sehen und zu verstehen, dass sie Menschen wie wir sind. Dass sie mit uns auf einer Stufe stehen.

Ihr Kollege Arno Grünberg hat in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung jüngst geschrieben, dass Muslimen in den Niederlanden Mitte der Neunziger großes Mitleid entgegengebracht wurde. In Srebrenica hatte sich gerade ein schreckliches Massaker ereignet, bei dem niederländische Blauhelmsoldaten nicht eingegriffen haben. "Für kurze Zeit", schreibt Grünberg, "war der Muslim das Symbol des Opfers, das unsere Sympathie verdient". Ist das auch eine Form jener Toleranz, von der Sie reden?

Ich bin mir nicht sicher, ob die Psychologie von Srebrenica wirklich so einfach ging. Aber was Sie sagen, ist trotzdem sehr wahr: Wenn man Menschen nur als Opfer betrachtet, macht man sich selbst größer. Man macht sich zu einer Art Arzt. Man kann sie heilen. Man kann ihnen helfen. Und das ist auch eines dieser so schnell in Überheblichkeit kippenden Motive: Es will ja längst nicht jeder Hilfe. Manchmal kommen Migranten, kommen Geflüchtete, kommen Menschen, die wollen sich einfach ein eigenes Leben aufbauen - und ansonsten ihre Ruhe haben.

Hilfe ist dann paternalistisch?

Und dieser Paternalismus mutiert in den Auffanglagern zum absoluten Extrem. Die Menschen werden gezwungen, dort zu sitzen und zu warten. Sie dürfen nicht arbeiten, dürfen nicht für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen. Sie sind zu Passivität verdammt. Es ist kein sehr großes Wunder, dass Menschen dann irgendwann auf sie herabschauen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich ist es gut, zu helfen. Aber wir sollten uns über unsere Motive dabei im Klaren sein. Tun wir es für sie oder um unser Ego zu streicheln? Die Art, wie wir es momentan oft tun, deutet für mich auf Letzteres hin.

Glaubt man den Prognosen, wird sich mit der Wahl an der Regierung nicht viel ändern.

Das stimmt. Zumindest, wenn die Parteien ihr Wort halten und nicht mit Wilders koalieren, wird er nicht Premier. Es wird also wohl wieder eine große, bürgerliche Koalition geben - und wir werden weiter in Mittelmäßigkeit regiert. (lacht)

Ist das auch Teil des Problems?

Ach, manchmal ist Mittelmäßigkeit doch auch ein Segen. Wenn Politiker etwas medioker sind, stellen sie wenigstens keinen großen Blödsinn an. Die großen Inspirationen für Leben und Gesellschaft kommen doch eh aus anderen Bereichen. Ich jedenfalls bräuchte keine überzogen inspirierten Politiker. Mir würde es völlig genügen, wenn sie einen vernünftigen Rahmen schaffen und uns dann weitestgehend in Ruhe lassen.

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