Vortrag:Unbeugsam unabhängig

Die 87 Jahre alte Philosophin Ágnes Heller kämpft für ein liberales Europa und gegen den Hass Viktor Orbáns. In Dachau stellt sie ihr neues Buch vor

Von Helmut Zeller

Die Rechtspopulisten wagen sich nicht an sie heran: Die Philosophin Ágnes Heller, 87, zählt zu den schärfsten Kritikern des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Aber Hellers großen Lehrer, den marxistisch-jüdischen Philosophen Georg Lukács, will der Budapester Stadtrat auf Antrag der rechtsradikalen Jobbik-Partei schon mal verschwinden lassen. Sein Denkmal im Szent-István-Park soll demontiert werden. 2016 wurde schon das Archiv des 1971 gestorbenen Denkers, eine der großen Persönlichkeiten der europäischen Geistesgeschichte, geschlossen. Seine ehemalige Schülerin, heute die bedeutendste Philosophin Europas, nimmt am kommenden Samstag an einem Protest-Happening im Szent-István-Park teil - davor kommt sie für einen Abend nach Dachau.

Sie stellt ihr Buch "Die Welt der Vorurteile - Geschichte und Grundlagen für Menschliches und Unmenschliches" vor. Ein Schauplatz dieser Entdeckungsfahrt durch die Moderne wäre, wenn sie denn verfilmt würde, der Szent-István-Park im Stadtteil Neu-Leopoldstadt mit heute noch vielen jüdischen Bewohnern. Im Winter 1944/ 45 trieben Pfeilkreuzler, ungarische Faschisten, Ágnes Heller durch den Park ans Ufer der Donau. Tausende Budapester Juden wurden in den Fluss geschossen. Die damals 15-jährige Ágnes und ihre Mutter überlebten nur, weil die Pfeilkreuzler die Mordaktion plötzlich abbrachen.

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Ágnes Heller ist eine Denkerin mit moralischem Kompass. Aktuell nimmt sie an Protest-Happenings in Ungarn teil.

(Foto: Johannes Simon)

Ihr ganzes Leben lang suchte sie in ihren geschichts- und moralphilosophischen Werken eine Antwort auf die Frage, wie Auschwitz und der Gulag geschehen konnten. Ihr unabhängiges Denken brachte sie in Konflikt mit der kommunistischen Partei, die sie nach dem Ungarn-Aufstand von 1956 ausschloss, rehabilitierte und erneut hinauswarf und mit Berufsverbot belegte, weil sie der eigensinnigen Genossin nicht Herr wurden. Als führender Kopf der Budapester Schule versuchte sie das Sowjetsystem zu reformieren, um sich dann komplett davon abzuwenden. Ágnes Heller emigrierte 1977 als Professorin für Soziologie nach Melbourne und wurde Nachfolgerin von Hannah Arendt auf deren Philosophie-Lehrstuhl in New York. Schreiben, nachdenken, sprechen - das ist die Welt von Ágnes Heller, die noch heute jeden Morgen im Schwimmbad des Appartementhauses in Budapest ein paar Bahnen zieht und dabei im Kopf schon ganze Passagen des gerade aktuellen Buches oder Vortrags formuliert.

Eine Außenseiterin ist sie bis heute geblieben - in der zierlichen Person steckt das freche Mädchen, das sich mit acht Jahren mit ihrem Vater fetzte, weil sie ihn davon überzeugen wollte, dass Schiller bedeutender als Shakespeare sei. Von ihrem Vater, der im Januar 1945 in Auschwitz starb, erhielt sie einen moralischen Kompass. Ágnes Heller mischt sich in die Politik ein - "Orbán vergiftet die Seele der Ungarn, weil sie von ihm hassen lernen." Angst um sich hat sie nicht. Ihre Sorge gilt Europa, durch das ein Rechtsruck geht. Die Rechtspopulisten in ihrem Land, in Frankreich, Holland, Deutschland und jetzt auch in den USA instrumentalisieren die Vorurteile der Moderne für ihre menschenverachtende Politik. Nach "Europas Sündenfall", dem Ersten Weltkrieg, nahm die liberale nationalstaatliche Bewegung des 19. Jahrhunderts, wie Ágnes Heller sagt, einen chauvinistischen und fremdenfeindlichen Charakter an.

Sie kämpft für ein Europa, das Flüchtlingen und Minderheiten mit Respekt begegnet - auch im Szent-István-Park geht es darum. Der Angriff gilt auch dem Juden Georg Lukács und soll die Budapester jüdische Gemeinde, die größte in Mittelosteuropa, treffen. In Dachau spricht Ágnes Heller im Karmel-Kloster. "Franziskus tut alles, was er tun kann. Aber die ungarische Kirche liebt ihn nicht." Danach muss die Philosophin gleich zurück und weitere Happenings vorbereiten.

Vortrag und Gespräch mit Ágnes Heller, Donnerstag, 16. Februar, 19.30 Uhr, Karmel Heilig Blut, Dachau, Alte Römerstraße 91

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