Vortrag:Die Würde des Niederen

Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Jane O. Newman erinnert in Berlin an den Romanisten Erich Auerbach, der in die USA floh.

Von Peter Vogt

Es gab eine Zeit, da war die Einreise in die USA der letzte Hoffnungsschimmer für eine ganze Generation und Religionsgemeinschaft. In den Dreißiger- und Vierzigerjahren wäre ein generelles amerikanisches Einreiseverbot, sagen wir einmal für deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens, einer menschlichen Katastrophe riesigen Ausmaßes gleichgekommen. Im Übrigen: Die internationale Vorreiterrolle, welche die amerikanischen Eliteuniversitäten und insbesondere ihre geisteswissenschaftlichen Departments nach dem Zweiten Weltkrieg errangen, wäre ohne die Zuwanderung der aus Deutschland vertriebenen jüdischen Intellektuellen wohl kaum möglich gewesen.

Einer dieser Gelehrten war der Romanist Erich Auerbach, der 1936 zunächst aus Marburg nach Istanbul flüchtete und schließlich nach dem zweiten Weltkrieg Aufnahme in den Vereinigten Staaten fand. Dem Andenken Auerbachs, vor allem aber den existenziellen Fragestellungen seiner Deutung der Weltliteratur von Homer bis Virginia Woolf etwa in dem im Istanbuler Exil entstandenen Buch "Mimesis" (1946) war kürzlich ein Vortrag der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Jane O. Newman an der American Academy in Berlin gewidmet.

Transatlantische Partnerschaft auf hohem intellektuellen Niveau, im Duktus wechselseitigen Respekts. Der Abend am Ufer des Wannsees - übrigens in einer Villa, die einst einem deutsch-jüdischen Bankier gehörte, der in den Dreißigerjahren in die USA fliehen musste - führte vor, dass dies (noch) möglich ist.

War Auerbach geprägt vom "christlichen Existenzialismus"?

Jane O. Newman wandte sich in ihrem Vortrag gegen eine Sichtweise, die sich allein auf Auerbachs literarische Interpretationen konzentriert, dabei aber nach dem philosophischen oder vielleicht sogar theologischen Leitmotiv dieser Deutungen zu fragen vergisst. Auf Nachfrage erklärte Newman in der sich an ihren Vortrag anschließenden Diskussion, die vorherrschende Lesart Auerbachs zumindest in den USA sei ihr religiös zu unmusikalisch, zu einseitig "säkular". Gegen eine solche Lesart formulierte sie ihre These: Auerbachs Werk liege ein "christlicher Existenzialismus" zugrunde, der sich unter anderem der Begegnung mit Rudolf Bultmann und Gerhard Krüger im Marburg der späten Zwanzigerjahre verdanke.

Die Plausibilität dieser These dürfte entscheidend davon abhängen, was unter "christlichem Existenzialismus" zu verstehen ist. Gewiss ist Auerbachs Existenzialismus, wenn von einem solchen überhaupt die Rede sein soll, nicht atheistisch. Das Pathos der "Wahl" und der "Entschlossenheit", wie es Sartre und der frühe Heidegger formulieren, ist Auerbachs Schriften gänzlich fremd. Auerbach interpretiert den Menschen nicht als "geworfen", sondern, so könnte man vielleicht mit Oskar Becker formulieren, als "getragen".

"Der Charakter eines Menschen ist sein Schicksal."

Gelassenheit wird damit für Auerbach zur Zauberformel im Umgang mit den Widerfahrnissen des Alltags. Jede dramatische Pose war Auerbach fremd. Darauf hat zuletzt Hans Ulrich Gumbrecht in einer erhellenden biografischen Skizze seines Buches "Vom Leben und Sterben der großen Romanisten" (2002) aufmerksam gemacht. Für Auerbach ist der Mensch nicht das, was er aus sich macht, wie Sartre postulierte, sondern er hat, verstrickt in seine Geschichte, in diese Verstrickung einzuwilligen. In diesem Sinne wohl ist auch das Zitat von Heraklit zu verstehen, welches Auerbach seiner 1929 erschienenen Habilitationsschrift "Dante als Dichter der irdischen Welt" voranstellte: "Der Charakter eines Menschen ist sein Schicksal."

Lässt sich eine solche Variante des Existenzialismus mit dem Etikett "christlich" versehen? Nur dann, so erläuterte Jane O. Newman, wenn sich diese Gelassenheit mit einem Beharren auf der Würde des Alltäglichen, Niederen, Kreatürlichen verknüpft, wie es Auerbach exemplarisch im spätantiken "sermo humilis", einem vor allem von Augustinus gebrauchten Predigtstil, entdeckte.

Nicht in den großen Worten, sondern in den kleinen Dingen erschließt sich Wirklichkeit. Stets folgten Auerbachs Untersuchungen zur Darstellung der Wirklichkeit in der abendländischen Literatur dieser Überzeugung. In Zeiten überall und ständig geäußerter großer Worte lohnt es sich, dafür plädierte Jane Newman in ihrem Berliner Vortrag, dieses Programm in Erinnerung zu behalten.

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