Vorschlag-Hammer:Wer die Kultur bewahrt

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Die letzten Tage liegen mir schwer im Magen. Da sind sie also wieder, die Bewahrer "unserer" Kultur. Die freilich keinen halben Satz in fehlerfreiem Deutsch hinkriegen, im Leben keine Zeile Kant oder Goethe gelesen haben, und Bach nicht von Heino unterscheiden können

Von Oliver Hochkeppel

Die letzten Tage liegen mir schwer im Magen. Es fing damit an, dass sich ein Freund, den ich für einen vernünftigen Menschen halte, als "Chemtrail"-Gläubiger outete. Zusätzlich vom Besuch der Science Busters angeregt, surfte ich auf der einschlägigen "Chemtrail.de"-Website. Um nicht nur die gängigen Verschwörungstheorien zu finden, sondern auch "Eva Hermans Gedanken zum Flüchtlingsstrom" ("eine subversive, perfide Kriegsstrategie, die auch schon das alte Rom vernichtete") und noch weit übleres rechtsradikales Gedankengut.

Dadurch sensibilisiert, las ich tags darauf ausnahmsweise die Kommentare auf dem Freenet-Nachrichtenportal, von dem aus ich meine Mails aufrufe. Um unter allen Pegida- oder Flüchtlingsberichten fast ausschließlich faschistoiden Müll lesen zu müssen. Also weiter auf Youtube: Dasselbe Spiel, selbst bei unverfänglichen Musikvideos macht sich das braune Pack als Kommentator breit. Und am Mittwoch bekam ich ein Fax weitergeleitet, das beim Tegernseer Ludwig-Thoma-Saal vor einem Kabarettabend mit Simon Pearce einging: Der anonyme Sprecher des "Nigger-nein-danke Vereins Miesbach" kündigte darin den Besuch mit "ein bisschen Tränengas, Pfefferspray" und "einer Tracht Prügel gratis dazu" für Pearce an, weil man nicht noch mehr "schwarzes, rotes und grünes Gesindel in unserer seit 500 Jahren gewachsenen Tegernseer Kultur" brauche.

Da sind sie also wieder, die Bewahrer "unserer" Kultur. Die freilich keinen halben Satz in fehlerfreiem Deutsch hinkriegen, im Leben keine Zeile Kant oder Goethe gelesen haben, und Bach nicht von Heino unterscheiden können. Die "stolz sind, ein Deutscher zu sein", als ob dieses an sich wert- und bedeutungslose Faktum eine selbst vollbrachte Leistung sei. Man sollte sich nichts vormachen: Dass ein geistfeindlicher Mob mit dem Schüren von Ressentiments, Hass und Neid andere ansteckt, das Denken einzustellen, und die Anders- beziehungsweise Überhaupt-noch-Denkenden in die Defensive drängt, ist heute offensichtlich genauso möglich wie Anfang der 1930er-Jahre.

Da bleibt kein Spielraum für die so oft missverstandene Toleranz, da heißt es dagegenhalten. Im Dienste jener eben nicht inzestuösen, kleinbürgerlich degenerierten, sondern durch Austausch zur Blüte gebrachten Kultur, wie sie etwa das famose Klassik-Jazz-Projekt "From Bach to Piazzolla" des Schweizer Trompeters Matthias Spillmann und seiner Band Mats-Up verkörpert (23. Oktober, Unterfahrt). Oder seit Jahrzehnten die Engländerin und Münchnerin Jenny Evans, die im Silbersaal des Deutschen Theaters ein Peter-Kreuder-Programm singt. Den hatten die Nazis damals auch fast kleingekriegt.

© SZ vom 23.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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