Vorschlag-Hammer:Überraschung!

Wie viel Theater braucht Theater, und wie viel Literatur braucht die Literatur? Eine blöde Frage, könnte man meinen. Ist aber nicht so

Von Antje Weber

Wie viel Theater braucht Theater, und wie viel Literatur braucht die Literatur? Anders gefragt: Wie viel Wirklichkeit halten die Künste aus? Es gibt Kollegen, die jüngst nicht zum Open-Border-Kongress der Kammerspiele gingen, weil der ihnen zu weit weg schien vom Sinn des Theaters: Schauspieler zu zeigen, die auf der Bühne Schauspiele zeigen. Statt dessen, ob bei Open Border oder Spielart oder bald Literaturfest: Grenzüberschreitungen, Diskursives, und überall die Themen Flucht und Migration. Reicht das nicht allmählich?

Nein, es reicht nicht. Es fängt alles gerade erst an. Wir alle, ob Politiker oder Journalisten, Zeitungsleser oder Whatsapper, ehrenamtliche Helfer oder hauptamtliche Ablehner, wissen in diesem deutschen Herbst doch überhaupt nicht, wo es hingehen soll und wird. Mit den Flüchtlingen, mit unserer Gesellschaft, ja, ja, ja. Jede Begegnung, jeder Denkanstoß bringt uns weiter als künstlerischer Purismus. Und birgt im besten Fall eine Überraschung - der Beginn von allem Neuen schlechthin. Wenn bei Spielart in der mexikanischen Performance "Amarillo" die scheinbar konventionelle Fluchtgeschichte eines Mannes in eine Anklage der zurückgelassenen Frauen und später in ein trotzdem kunterbuntes Schlussbild mündet, dann löst das Emotionen aus (okay, das ist Theater). Wenn ich mich beim Open-Border-Kongress erst von einer interaktiven Installation von Rimini Protokoll berühren lasse (Theater), dann mit einer kosovarischen Ehrenamtlichen über die Lage in ihrer Heimat spreche (Diskurs), dann in der Kantine mit einem Aktivisten aus Mali und Musikern von Ndagga Rhythm Force aus dem Senegal das Weltgeschehen durchkaue (unterhaltsamer Diskurs) und anschließend bei deren ekstatischem Konzert tanze (Musik) - dann sind das starke Eindrücke, die mich bis heute begleiten.

Und genau solche höchst unterschiedlichen Begegnungen und Denkanstöße erhoffe ich mir auch vom Literaturfest, das am 18. November beginnt. Mit - unter anderem - einem Gespräch von Alaa al-Aswani und Najem Wali über das Exil (20. November, Ägyptisches Museum), mit einem international besetzten Slam-Literaturfestfest (21. November, Muffathalle). Mit der neuen Publikation "Die Hoffnung im Gepäck", für die Münchner Schriftsteller Flüchtlinge trafen (23. bis 27. November, Lyrik Kabinett). Mit einer Lesung der kanadischen Autorin Madeleine Thien, die jüngst auf der Frankfurter Buchmesse den LiBeraturpreis erhielt (21. November, Gasteig). Mit einer Pidgin-Rap-Performance der Fokn Bois aus Ghana (24. November, Milla Club). Und dort am selben Abend mit einer Diskussion zwischen der Inderin Shumona Sinha und Jenny Erpenbeck. Deren Roman "Gehen ging gegangen" konjugiert alle Fragen zum Flüchtlingsthema nicht nur grammatikalisch durch. Um beim Literaturfest nicht nur diverse Formen der Vergangenheit zu verstehen, sondern auch die Zukunft zu üben: Wir gehen hin, wir werden hingehen, wir werden hingegangen sein.

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