Vorschlag-Hammer:Mut zum Lückenfüller

Jahrelang stand er zwischen anderen Thomas-Mann-Bänden, die ich einst vorzog, weil dünner. Es ging von diesem Buch ein Vorwurf aus, still aber wahrnehmbar. Jetzt habe ich den "Zauberberg" gelesen

Von Christian Jooß-Bernau

Dann und wann beichten Menschen, denen man unterstellt, sie hätten die Weltliteratur komplett ausgelesen, Journalisten, welche Werke sie nie in der Hand hatten. Das Lesen solcher Artikel erteilt eigenartigerweise die Erlaubnis, unwissend sterben zu dürfen. Ich hatte den "Zauberberg" verpasst. Jahrelang stand er zwischen anderen Thomas-Mann-Bänden, die ich einst vorzog, weil dünner. Es ging von diesem Buch ein Vorwurf aus, still aber wahrnehmbar. Jetzt habe ich den "Zauberberg" gelesen, einfach so, aus Scheiß. Und ich will diesen witzig weisen Blick in ein deutsches Vorkriegspanoptikum nicht mehr missen. Allein Naphta, dieser Obskurant, der sich in Opposition zum Humanistischen als kritischer Geist in Pose wirft und dabei in maßloser Selbstüberschätzung keine Wissenschaft gelten lässt, scheint glatt lebensechter als die Feinde des Mitmenschlichen, die man aktuell im Oval Office und jetzt auch im Bundestag findet.

Gegen Unkenntnis vorzugehen, ist nicht nur politisch eine gute Idee. Man läuft sonst Gefahr, Lebensbereicherndes zu verpassen. So wie ich beinahe die erste Ausstellung des Fotografen Mark Steinmetz in der Lothringer 13, bei dessen amerikanischen Porträts ich oft den Eindruck von Individuen hatte, die verloren in der Kulisse eines Landes stehen, dessen Geschichte man zubetoniert hatte. Im Amerikahaus läuft derzeit Teil zwei der Steinmetz-Schau und in der Lothringer 13 Me:We, die Ausstellung zum Fotodoks-Festival. Hier zu sehen ist auf drei Videoleinwänden Michael Danners Arbeit "Migration as Avantgarde", die Bilder neu ankommender Geflüchteter zusammenbringt mit Bildern von Menschen, die einst nach einem verheerenden Krieg heimatlos wurden. Flucht und Vertreibung ist eine überzeitliche Gesellschaftserfahrung, einzig das Interieur der Amtsstuben ändert sich dann und wann. Wir und die Anderen - wer außer denen, die wenig haben außer einem Volksempfinden weiß schon genau, wo die Grenze ist.

Was mich zu einem roten VW-Golf, Ende der Siebziger führt, auf dessen Rückbank ich saß und energisch darum bat, man möge Bonnie M.s "Rivers of Babylon" lauter drehen, den Pop-Song über die jüdische Diaspora, in der sich auch die Vertreibung aus dem Paradies spiegelt. Was mir damals, als ich versuchte in Fantasieenglisch mitzuschallern, natürlich egal war. Ich liebte diesen Song. Und es ist noch nicht lange her, dass mir in einer Plattenkiste der Soundtrack von "The Harder They Come" unterkam - darauf die Original-Version der Melodians von 1970. Hier war es wieder, das Erstaunen über Dinge, die mir ein Leben lang entgangen waren. Rocksteady beispielsweise. Der findet sich auch auf einem Sampler des Labels Trojahn von 1979, den meine Frau als Doppel-LP dankenswerterweise in die Ehe mitbrachte und den heute nur findet, wer Glück hat. "Rebel Music" heißt er, und das scheußliche Cover vergisst man mit den ersten Takten von Bob Andys "You Don't Know". Kaufen statt erheiraten kann man sich den Caltone-Sampler "Listen To The Music", "I Feel the Spirit" von Prince Buster oder das Debüt und einzige Album der Frightnrs. Der Sänger Dan Klein starb während der Aufnahmen dieses Retro-Rocksteady-Schatzes, den man uns bei Selekta Records im Hamburger Schanzenviertel empfahl. Dies nur als subjektiv Empfehlung aus unserer Plattenkiste. Live hat man die nächste Zeit nur eine Chance auf Roots und Reggae und Ska: The Slackers am 26. Oktober im Feierwerk.

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