Vorschlag-Hammer:Mustergültig

Dass Historiker zu den öffentlich wirksamsten Streithanseln unter den Geisteswissenschaftlern gehören, ist nicht ganz neu. Mit seinem Buch "Europa gegen die Juden 1880-1945" hat nun der auf den Holocaust spezialisierte Historiker Götz Aly eine Diskussion entfacht

Von Eva-Elisabeth Fischer

Historiker gehören, zumal seit dem 1986 durch Ernst Nolte losgetretenen Historikerstreit um die Singularität des Holocaust als Menschheitsverbrechen, sicherlich zu den öffentlich wirksamsten Streithanseln unter den Geisteswissenschaftlern. Entsprechend gibt Barbara Distel, von 1975 bis 2008 Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, dem auf die Erforschung des Holocaust spezialisierten Historiker Götz Aly in der SZ-Rezension seines jüngsten Buches Europa gegen die Juden 1880-1945 (Fischer Verlag) kräftig eins auf die Mütze. Sicher ist da persönliche Ranküne mit im Spiel. Distels Invektiven werden dem Autor wohl weniger schaden als das Interesse an seinen Thesen befördern, wenn er diese am 24. April, 20 Uhr, auf Einladung der Literaturhandlung im Literaturhaus  vorträgt.

Denn was Aly nicht nur in osteuropäischen, erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs allmählich zugänglichen Archiven zutage gefördert hat, liefert eine so noch nicht präsentierte Fülle bisher nicht veröffentlichten Anschauungsmaterials. Aly erhärtet in seiner so eingängig geschriebenen wie in den Fakten verstörenden Gesamtschau des europäischen Antisemitismus zum Beispiel die nicht neue These, wonach Hitler das an Juden reiche Osteuropa auch deshalb zum Hauptschauplatz der Schoah wählte, weil er dort auf Kollaboration bauen konnte. Aber eben nicht nur dort. In der "Endlösung" kulminierte laut Aly eine europaweite Entwicklung, die Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte: "Just 1880 entstand das bis dahin unbekannte Wort Antisemitismus und zwar in Deutschland. Von hier wurde es ins Weltvokabular exportiert", schreibt er. Der Begriff löst den religiös definierten Antijudaismus ab und sortiert, ideologisch abgefedert, eine bisher mehr oder weniger integrierte Bevölkerungsgruppe aus nationalen, wirtschaftlichen, sozialen und schließlich rassischen Gründen aus. Er rechtfertigt in der Folge, die gesellschaftlich Ausgeschlossen en en gros umzusiedeln, wie das nicht nur im Osten, sondern etwa auch in Saloniki oder im Elsass geschah. Oder das Fremde in grausamsten Pogromen niederzumetzeln -Vorlauf der systematischen Ausrottung.

Wer Götz Alys Beispiele für Diskriminierung und Entrechtung der Juden studiert, wird darin unschwer erkennen, dass diese Praxis den Boden für die Schoah bereitete, sondern auch ein bis heute gültiges Muster, wie es aktuell vor allem in außereuropäischen Ländern "ethnischen Säuberungen" voraus geht. Die Folge: Massenfluchten in Richtung Europa und seine Länder, die es besser wissen sollten.

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