Vorschlag-Hammer:Mengenlehre

Eigentlich müsste man Walter Benjamins berühmtes Traktat neu auflegen, nun mit dem Titel: "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner problem- und sinnlos beliebigen technischen Reproduzierbarkeit"

Von Oliver Hochkeppel

Heute enttarne ich mich wieder einmal als hoffnungslos altmodisch. Reicht mir doch Entschleunigung nicht, ich wünsche mir Entmengung. Gerade war ich in Südfrankreich auf einer Hochzeit, und was da wegfotografiert wurde, geht auf keinen Rechner. Von den Profifotografen wie von der Handy-Meute - zu der man selbst natürlich auch gehört. Gut 170 Aufnahmen zähle ich auf meinem Handy, das wären früher sieben 24er-Filme und ordentlich Geld gewesen. Die Fotos landen jetzt auf den Festplatten meiner NAS (so modern bin ich dann doch), wo sie das Schicksal abertausender anderer Fotos teilen: Kaum je werden sie wieder betrachtet werden.

Vor allem, weil ja auch ähnliche Massen Musik dort des Hörens harren, abgesehen von den Stapeln von DVDs mit Serien und Filmen, die man wegen des Volumens gar nicht erst überspielt hat. Dann ruft auch noch minütlich das Netz; alleine was in einer Stunde auf Youtube hochgeladen wird, kann man sich im ganzen Jahr nicht anschauen. Und warum sollte man auch, die Menge allein macht's eben doch nicht. Eigentlich müsste man Walter Benjamins berühmtes Traktat neu auflegen, nun mit dem Titel: "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner problem- und sinnlos beliebigen technischen Reproduzierbarkeit".

Es geht also nicht mehr nur um Selektion, sondern bereits um Vorselektion: darum, Daten-, Pixel- und Sinnesmüll von vorneherein zu vermeiden. Verzichten, sich rar machen, das Wesentliche herausfiltern, dafür steht der New Yorker Pianist Fred Hersh wie wenige. Gut 25 Alben hat er in seiner 40-jährigen Karriere eingespielt, Mittelmäßiges ist nicht dabei. In New York, wo er als bislang einziger eine Woche solo im "Village Vanguard" spielen durfte, ist der Brad-Mehldau-Lehrer der Guru des neoromantischen, klassisch unterfütterten Jazzpianos, hier kennen ihn nur Wenige, weil er so gut wie nie tourt. Jetzt ist er mit seinem Trio erstmals in der Unterfahrt zu Gast (4. Juni, 21 Uhr) - ein Muss für alle, die Klasse vor Masse stellen. Ebenfalls eine seltene Begegnung und ein Highlight für Bluesfans ist das Duo des Spider-Murphy-Gang-Keyboarders und hiesigen Südstaaten-Sound-Statthalters Ludwig Seuss mit dem oft so genannten "Vater der Hamburger Bluesszene" Abi Wallenstein (3. Juni, Schlachthof). Eine archaische Vorübung für den 10. Juni kann man daraus machen: Sollten Sie da wie ich zu Paul McCartney ins Olympiastadion gehen, lassen Sie doch einfach mal das Handy daheim. Konzentrieren Sie sich ganz auf das Geschehen und speichern Sie die besten Momente da, wo sie wirklich Bestand haben: im Kopf.

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